Die fünf Leben der Daisy West
und ihr Gesicht ist so blass, dass sie fast durchsichtig wirkt.
»Alles okay«, behauptet sie und trinkt einen Schluck Limonade. »Ich musste nur so nötig, dass ich mir fast in die Hose gepinkelt hätte.«
»Bist du sicher?«, hake ich nach. »Ich habe nämlich gehört, dass du ...«
»Dass ich mich übergeben habe?«, unterbricht sie mich. Dann beugt sie sich zu mir vor und flüstert: »Da war noch jemand. Sie hat sich die Seele aus dem Leib gekotzt. Vielleicht hat sie Bulimie oder so.«
Ich blicke in Richtung Ausgang. Da ich meiner neuen Freundin gern glauben möchte, hoffe ich, ein superdürres Mädchen mit dem für Bulimie typischen, auffällig runden Gesicht zu erblicken, das gerade schuldbewusst das Lokal verlässt. Das Problem ist, dass ich Audrey nicht glaube, nicht eine Sekunde. Die Geschichte ist nicht schlecht, sie ist sogar ganz gut, doch als sie sich vorbeugt und mir zuflüstert, hat ihr Atem sie verraten.
Erbrochenes.
Zurück in der Schule kommt uns im Aufenthaltsraum ein großer blonder Typ entgegen und sieht Audrey an. Die Art, wie er sie anschaut, hat nichts mit dem normalen prüfenden Blick unter Teenagern zu tun: Er wirkt traurig. Vielleicht sogar mehr als traurig. Am Boden zerstört. Er bleibt vor uns stehen und öffnet den Mund, um etwas zu ihr zu sagen. In seinen Augen ist so viel Schmerz, dass ich unbedingt hören will, was er zu sagen hat, doch Audrey greift nach meinem Arm, zieht mich um ihn herum und beschleunigt den Schritt. Die stumme Szene wird von den Umstehenden aufmerksam beäugt, während wir uns einen Weg durch die vielen Schüler hindurchbahnen, die sich nach dem Mittagessen in dem Raum aufhalten.
»Was war das denn?«, frage ich leise, als wir den Gang erreichen, wo sich unsere Schließfächer befinden.
»Nur ein Ex-Freund«, antwortet sie.
»Wow, der ist aber süß.«
Einen Moment lang ist Audrey still, bevor sie erwidert: »Früher war er süß.«
In dem Moment klingelt es und ich kann sie nicht mehr fragen, was sie damit meint.
Nach der Schule will Audrey wissen, ob ich Lust habe, am Abend ins Kino zu gehen, was ich nach der seltsamen Mittagspause als Rückkehr zur Normalität werte. Doch als ich nach Hause komme, meinen Rucksack hinwerfe und in den Keller gehe, um Mason zu begrüßen, ist es wieder vorbei mit der guten Stimmung.
»Wir fahren dieses Wochenende nach Kansas City«, sagt er, ohne richtig von seiner Arbeit aufzublicken.
»Ich weiß«, sage ich. »Das hast du mir schon heute Morgen erzählt. Bekommst du jetzt Alzheimer?« Okay, soo witzig ist das nicht, trotzdem muss ich grinsen. Mason jedoch geht gar nicht erst darauf ein. Er wirkt gestresst.
»Ich habe dir gesagt, dass Cassie und ich morgen fahren, aber wir haben noch nicht darüber gesprochen, dass du mitkommst.« Er sieht mir in die Augen.
»Neeeeein!«, protestiere ich. »Ihr wollt doch Wade testen!«
Wade Zimmerman, ehemals Wade Sergeant, ist zweifelsohne das nervigste der Kids aus dem Programm. Er ist nur ein Jahr älter als ich, tut aber immer so erwachsen. Seine herablassende Art zu reden ist unerträglich. Doch was mich am meisten an Wade nervt, ist, dass er unsere gemeinsame Vergangenheit ignoriert. Nie spricht er über das Programm. Total krank.
»Wade ist ein netter junger Mann«, widerspricht Mason kopfschüttelnd, während er sich etwas notiert. Cassie niest und ich zucke zusammen, weil ich gar nicht gemerkt habe, dass sie im Raum ist.
»Wade ist unausstehlich«, entgegne ich, ohne Cassies Schniefenzu beachten. »Und ich darf sonst immer selbst entscheiden, ob ich euch zu den Tests begleite oder nicht. Warum wollt ihr dieses Mal über mich bestimmen?«
Mason seufzt. »Ich kann es dir selbst nicht erklären. Irgendetwas beunruhigt mich, ohne dass ich genau sagen kann, was es ist. Nenn es Instinkt oder Paranoia. Mir ist es einfach lieber, dich dieses Wochenende in unserer Nähe zu wissen.«
Wegen seines (fast schon beängstigenden) sechsten Sinns ist Mason anscheinend einer von Gotts Lieblingsagenten. Zu wissen, dass Mason sich wegen etwas Sorgen macht, verursacht bei mir sofort eine Gänsehaut.
»Kann ich wenigstens heute Abend noch mit Audrey ins Kino gehen?«, frage ich.
Schweigen.
»Okay«, antwortet Mason schließlich, auch wenn die Falten auf seiner Stirn verraten, dass er mich am liebsten zu Hause behalten würde.
Ich gehe dennoch und komme damit weiter von der heilen Welt ab.
Mason behauptet, dass er ohnehin einkaufen gehen will und besteht darauf, mich bei Audrey
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