Die fünf Leben der Daisy West
Frage aller Zeiten. Als Matt den Blick weiter auf die Namen gerichtet hält, will ich mich gerade erkundigen, was ihn beschäftigt, da kommt er mir zuvor.
»Wo ist Megan?«, will er wissen.
»Ach, sie war damals Marcus Pitts«, erkläre ich. »Sie wurde als Junge geboren. Ihr Vater hat nach dem Unfall die Gelegenheit ergriffen und die Familie verlassen, größtenteils, weil er mit ihrer Transsexualität nicht umgehen konnte. Nachdem sie umgesiedelt worden waren, durfte sie anziehen, was sie wollte, und sein, wer sie wollte. Ihre Mutter lässt sie einfach machen. Seitdem trägt sie nur noch Mädchensachen.«
»Aber sie war doch erst fünf oder so?«
»Wenn man sich sicher ist, ist man sich wohl sicher«, sage ich achselzuckend.
»Und die mit dem X sind ...«
»Ja, sie sind gestorben«, bestätige ich nickend.
»Waren die beiden Brüder?«, erkundigt sich Matt. »Die beiden Evans.«
»Ja.«
»Und sie sind beide gestorben?«, fragt Matt entsetzt.
»Ja.«
»Die Eltern müssen ja am Boden zerstört gewesen sein.«
»Das waren sie sicher.«
»Das sind sie sicher immer noch.«
Ich sehe Matt an, der das Kinn auf die rechte Hand gestützt hat. Er runzelt die Stirn und seine dunklen Augen glänzen wie nach einem Regensturm. Das Schicksal dieser Leute, die er nie getroffen hat, geht ihm ganz offensichtlich nahe. Vielleicht ist es wegen Audrey, vielleicht ist er auch einfach ziemlich mitfühlend. Auf jeden Fall bewirkt Matts Reaktion, dass ich meine eigene Haltung überdenke. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mich für diejenigen, die für immer gestorben sind, nie wirklich interessiert, obwohl ich mich regelmäßig eingeloggt habe, um mehr über das Programm zu erfahren. Plötzlich wird mir bewusst, dass ich mir kaum Gedanken über sie gemacht habe.
Habe ich mir in all den Jahren Cassies roboterhaftes Wesen angeeignet? Oder ist es einfach nur eine speziell wissenschaftliche Denkweise, die mich das Programm so distanziert betrachten lässt? Oder ... ist gar das Programm selbst dafür verantwortlich? Immerhin hat es mich gelehrt, dass der Tod nichts Endgültiges ist. Möglicherweise bin ich abgestumpft und nehme den wahren Tod gar nicht mehr ernst.
Wie werde ich reagieren, falls Audrey stirbt?
Oder sollte ich sagen, wenn sie stirbt?
Ich verdränge diesen düsteren Gedanken und winke die Liste vom Bildschirm. Matt holt neben mir hörbar Luft, als habe er für eine Weile den Atem angehalten. Ich überlege, ob ich mich lieber ausloggen sollte, beschließe dann aber fortzufahren, denn Matt starrt immer noch wie gebannt auf den Bildschirm. Ich öffne das Verzeichnis, in dem die Ordner zu den einzelnen Unfallopfern gespeichert sind: Für jedes gibt es einen eigenen, egal ob tot oder lebendig. Sie sind nicht nummeriert und beginnen alle mit F-339145.Danach folgt jeweils ein willkürlicher Buchstabe, sodass man nicht erkennen kann, welcher Ordner zu wem gehört. Matt beobachtet mich, während ich lautlos Ene, mene, muh spiele.
Als ich das erste Dokument von »muh« öffne, erkenne ich sofort Masons Handschrift. Es ist mit dem 5. Dezember 2001 datiert, dem Tag des Unfalls.
Anfangs war Gott dem Internet gegenüber anscheinend sehr skeptisch eingestellt und ließ die Agenten ihre Berichte handschriftlich verfassen. Irgendwann hat er seine Abneigung gegenüber der Technik überwunden und alle handgeschriebenen Dokumente einscannen und das Papier anschließend vernichten lassen. Doch die handschriftlichen Notizen liefern ein viel umfassenderes Bild. Wenn ich Masons hastig hingekritzelte Schrift betrachte, fühle ich förmlich, wie ernst die Situation war, viel direkter, als wenn ich einen getippten Bericht lesen würde.
»Oh Mann«, murmele ich.
»Was ist?«, fragt Matt.
»Nichts, es ist nur die Handschrift«, antworte ich. »Sie gehört Mason und sieht so ... hektisch aus.«
Matt nickt, scheint aber noch immer nicht zu verstehen. Ich zeige auf das Datum.
»Das war der Tag des Unfalls«, erläutere ich. »Die Agenten mussten sich zu allen Patienten schnell Notizen machen. Die Situation war chaotisch. Und es muss so unbefriedigend für sie gewesen sein. Mason und die anderen sollten einundzwanzig Menschen mit einer Spritze wieder zum Leben erwecken und das war es dann.«
Matt lässt meine Worte einen Moment sacken, bevor er nachhakt: »Da, wo das Medikament nicht gewirkt hat, haben sie doch versucht, euch mit anderen Mitteln zu retten, stimmt’s?«
»Nein, genau das war das Problem«, antworte ich. »Um das Medikament
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