Die fünf Leben der Daisy West
zornig auf.
»Genau«, pflichte ich ihm bei. »Das ist schrecklich. Er hat es wirklich schwer gehabt, aber das Revive-Programm hat ihn da rausgeholt.«
Matt hebt die Augenbrauen, als wollte er mehr hören, weshalb ich weitererzähle:
»Gavins bester Freund ist bei dem Unfall ums Leben gekommen. Er hieß Michael Dekas. Michaels Eltern hatten anscheinend bereits vor dem Unfall den Verdacht, dass bei Gavin zu Hause etwas nicht stimmt, doch in ihrer Gegenwart hat Gavin nie etwas dazu gesagt. Mason meinte, sie hätten Gavins Mutter darauf angesprochen, aber sie habe alles geleugnet. Für eine Weile haben Gavins Eltern ihrem Sohn sogar verboten, zu den Dekas’ zu gehen. Dann geschah jedenfalls der Unfall und Michael reagierte überhaupt nicht auf das Medikament. Seine Eltern waren natürlich am Boden zerstört. Als die Agenten Gavin erfolgreich wiederbelebten, bemerkten sie all die Verbrennungen auf seinem Körper. Da sich seine Eltern nicht gemeldet hatten – ich glaube, sie waren damals in Kanada unterwegs –, erkundigten sich die Agenten, ob jemand von den anderen Eltern Gavin kannte. Michaels Eltern bejahten und als sie die Verbrennungen sahen, entschieden sie spontan, sich anzubieten, mit Gavin an einem neuen Ort ein neues Leben zu beginnen ... und ihn als ihren Sohn anzunehmen.«
»Nein!« Matt schüttelt ungläubig den Kopf.
»Doch, genauso war es«, antworte ich. »Somit hat das Programm Gavins Leben in gewisser Hinsicht sogar zwei Mal gerettet.«
»Ja«, stimmt mir Matt zu. »Aber für mich ist das fast wie eine Entführung, vielleicht schlimmer als die Sache mit den Nonnen.«
»Wahrscheinlich«, murmele ich und muss zugeben, dass ich es so noch nie betrachtet habe.
»Aber ganz bestimmt war es trotzdem das Richtige«, beeilt sich Matt klarzustellen. »Wie hätten sie ein Kind zu einem Typen zurückschicken können, der ihn als Aschenbecher benutzte?«
»Genau«, sage ich, aber ich bin nicht überzeugt. Für einige Minuten hängen Matt und ich unseren Gedanken nach. In meinem Kopf entstehen plötzlich viele Grautöne. Ich habe oft darüber nachgedacht, wie viel besser Gavins Leben jetzt ist, seine richtige Mutterhabe ich jedoch völlig außer Acht gelassen. Wie mag es ihr damals wohl ergangen sein und heute noch ergehen? Zum ersten Mal kommt mir der Gedanke, dass die Situation moralisch nicht ganz so schwarz-weiß zu sehen ist, wie ich es bislang immer getan habe.
Vielleicht hätten die Agenten sie intensiver suchen und ihr ebenfalls einen Ausweg aufzeigen sollen.
In mir beginnt etwas zu nagen, was sich wie Schuld anfühlt: Schuld, weil ich das Programm kritisiere, das mir ein Leben und ein Zuhause gegeben hat.
»Auch andere haben von Revive wirklich profitiert«, sage ich zu Matt, in dem Versuch, zumindest nach außen hin Gavins Geschichte abzuschließen. »Wie sich Megans Leben verbessert hat, habe ich ja bereits erzählt. Tyler und Joshua Hill geht es auch wunderbar. Sie sind eineiige Zwillinge, die beide mit Revive wiederbelebt wurden. Sie leben in Utah. Wie schrecklich wäre es gewesen, wenn es nur einer von ihnen geschafft hätte, aber sie leben beide. Ach, und Elizabeth Monroes kleine Schwester hätte an dem Tag auch in dem Bus sein sollen, blieb aber zu Hause, weil sie krank war. Elizabeth wurde mit Revive wiederbelebt. Ihrer Schwester ist es zum Glück erspart geblieben, nach dem Unfall die glückliche Überlebende sein zu müssen. Das muss eine schreckliche Bürde sein. Kannst du dir vorstellen, jeden Tag mit dem Wissen zu leben, dass deine Schwester niemals ...«
Ich bin so eifrig dabei, dem moralischen Dilemma zu entkommen und das Programm zu verteidigen, dass ich gar nicht darüber nachdenke, was ich sage, bis es zu spät ist. Doch dann trifft es mich wie mit dem Vorschlaghammer. Entsetzt über meine eigenen Worte sehe ich Matt an.
Er ist der glückliche Überlebende. Audrey nicht.
»Mein Gott, Matt, ich kann selbst nicht glauben, was ich gerade gesagt habe.«
»Schon in Ordnung«, antwortet er leise, bevor er den Blick von mir abwendet und an die Decke starrt. Obwohl es dort obennichts Interessantes zu sehen gibt, bleiben seine Augen darauf gerichtet.
»Nein, ist es nicht«, widerspreche ich.
Es ist totenstill und ich habe das Gefühl, dass es auf einmal eiskalt hier ist.
»Daisy, du hast recht«, sagt Matt schließlich und seufzt laut. Er löst den Blick von der Decke und sieht mich mit seinen dunklen Augen an. »Es ist nicht in Ordnung, dass es so ein Medikament gibt, es meiner
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