Die fünf Leben der Daisy West
wirklich zu testen, durfte nur Revive benutzt werden. Sie durften nicht einmal eine Herzdruckmassage oder Mund-zu-Mund-Beatmung durchführen.«
»Aber ...«, Matt versagt die Stimme.
»Kannst du dir vorstellen, Arzt zu sein und all diese lebensrettenden Maßnahmen gelernt zu haben, sie aber nicht anwenden zu dürfen?«, frage ich.
»Das ist wohl ein bisschen so, wie eine krebskranke Schwester zu haben und von einem lebensrettenden Medikament zu wissen, das sie nicht bekommen kann«, antwortet Matt und sieht mich eindringlich an.
»Wahrscheinlich«, murmele ich leise.
»Tut mir leid.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Du hast ja recht. Es ist schlimm.«
Matt wendet sich wieder dem Bildschirm zu und beginnt, die Notizen zu lesen. Da ich nicht recht weiß, was ich sonst machen soll, lese ich ebenfalls.
Nummer 16
Name: Kelsey Stroud
Alter: 6
Eltern: Jonathan and Nancy Stroud
(Einverständnis gegeben um 9.17 Uhr)
Fundort: Eingeklemmt unter Sitz acht (Mitte links)
Angenommene Todesursache: Schweres Schädel-Hirn-Trauma (Metallobjekt durchstieß den Kopf oberhalb der linken Schläfe; beträchtlicher Blutverlust; nur 1 Punkt auf der Glasgow-Koma-Skala in allen drei Rubriken – visuell, verbal, motorisch)
Erste Dosis: 9.18 Uhr
Reaktion: Keine
Zweite Dosis: Keine
Empfehlung: Obduktion, um Todesursache zu klären, damit Fall mit anderen Reaktionen auf Medikament verglichen werden kann.Gewebe- und Haarproben auf Resistenz-Marker testen, trotz klarer Hinweise auf Schädel-Hirn-Trauma als Todesursache. Eltern umsiedeln, obwohl Versuch gescheitert?
»Verdammte Scheiße«, schimpft Matt leise und schüttelt den Kopf.
»Tut mir leid«, sage ich wieder. »Ich habe eigentlich nach jemandem gesucht, der es geschafft hat. Am Namen des Ordners kann man schlecht erkennen, welche Person sich dahinter verbirgt.«
»Was ist aus den Eltern geworden?«, will Matt wissen, ohne auf meine Entschuldigung zu reagieren. Ich winke die Notizen vom Bildschirm und öffne eine weitere Datei in Kelseys Ordner. Es handelt sich um einen unterschriebenen Eid. Ich schließe sie wieder und finde das Formular für die Umsiedlung: Mr und Mrs Stroud mussten nicht ihren Namen ändern und leben jetzt in North Dakota. Letzter Kontakt 2011. Alles im Normalbereich.
Abgesehen davon, dass ihre Tochter tot ist.
Matt sagt nichts, weshalb ich einen neuen Ordner öffne. Die erste Datei ähnelt dem Bericht über Kelsey, nur dass es sich um ein anderes bei dem Unfall verunglücktes Kind handelt und die Notizen von einem anderen Agenten stammen.
Nummer 20
Name: Nathan Francis
Alter: 9
Angenommene Todesursache: Genickbruch (Röntgenbild bestätigt zertrümmerte Halswirbelsäule, passt zu Unfall; keinerlei Reaktion)
Erste Dosis: Keine
Reaktion: Keine
Zweite Dosis: Keine
»Verdammte Scheiße«, schimpft Matt abermals und dieses Mal lauter.
»Ich weiß.« Schnell schließe ich den Ordner, um mit der nächsten Handbewegung einen weiteren zu öffnen. Zum Glück handelt es sich dieses Mal um jemanden, der auf Revive reagiert hat: Gavin Silva, jetzt Gavin Villareal. Ich atme erleichtert aus, während ich mit der Hand wedele und mich durch die Einzelheiten seiner Wiederbelebung und Umsiedlung nach New York blättere.
»Ich kenne ihn«, sage ich. »Er ist supercool.«
»Ach ja?«, antwortet Matt. Seine Stimme ist rau. Mir wird bewusst, dass er – genauso wie ich, wenn nicht noch dringender – etwas Ermutigendes hören muss.
»Ja«, sage ich. »Bei vielen von uns hat Revive gewirkt und uns das Leben zurückgegeben.«
Ich fühle mich, als wäre ich gerade aus einem Geisterhaus herausgetreten. Meine Nerven liegen blank, ich bin vollkommen erschöpft und muss für einen Moment innehalten, um mich zu sammeln. Dann versuche ich, Matt die positiven Seiten des Revive-Programms darzulegen.
»Also, dieser Typ, Gavin, ist inzwischen einundzwanzig«, erläutere ich. »Du würdest ihn auch mögen, er ist wirklich witzig. Er besucht eine Kunstschule und macht diese irren Zeichnungen. Letztes Jahr hat er mir eine zum Geburtstag geschickt ... die von dem Gesicht, die in meinem Zimmer hängt.«
»Ja, ich habe sie gesehen.«
»Gavins Leben ist jetzt jedenfalls viel besser als vorher. Mason hat mir vor einigen Jahren erzählt, dass Gavins Vater ihn vor dem Unfall regelmäßig misshandelt hat. Er hat ihn nicht nur geschlagen, sondern auch Zigaretten an ihm ausgedrückt.« Schauernd halte ich inne.
»Das ist abartig«, erwidert Matt und seine Augen blitzen
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