Die fünf Leben der Daisy West
dich.«
»Das ist kein Zufall«, sage ich. »Was ist, wenn Gott auch den Busunfall verursacht hat?«
»Stopp!«, ruft Mason so schroff, dass ich zusammenzucke. »Wenn das stimmt, wäre die Arbeit der letzten elf Jahre umsonst gewesen. Gott würde – und könnte – niemals vorsätzlich einundzwanzig Menschen töten. Davon zwanzig Kinder. Das kann nicht sein.«
»Okay. Aber würdest du mir wenigstens einen Gefallen tun?«
»Und zwar?«
»Bitte David, nach dem Ordner von Fall 22 zu suchen. Wenn es ihn gibt, wird er ihn auch finden. Und wenn er ihn findet ...«
Ich beende den Satz nicht und lasse die Worte wirken.
»Und du versprichst mir, dass du Ruhe gibst, wenn David nichts findet«, entgegnet Mason.
»Nur wenn du mir versprichst, etwas zu unternehmen, wenn er fündig wird.«
Mason ruft David an und ich mache mich auf den Weg nach oben. Dort angekommen hole ich Audreys Brief hervor. Die gleichmäßigeHandschrift wirkt beruhigend auf mich: Ich habe mir angewöhnt, ihn zu lesen, wenn ich aufgebracht bin.
Um zwei Dinge möchte ich dich bitten.
Die erste Bitte ist leicht zu erfüllen: Nimm meine gesamte Kleidung. ALLES. Auch wenn du sie dann wegschmeißt, aber bitte hol sie aus unserem Haus (allerdings habe ich einen ziemlich guten Geschmack – haha! – deshalb solltest du die Sachen lieber behalten).
Sicher kennst du Menschen, die nicht loslassen können. Sie schluchzen angesichts von alten T-Shirts, die nichts mehr wert sind. Meine Mutter ist so ein Mensch. Sie hebt alles auf. Sie wird sich daran klammern. Meine hässlichsten Schlafanzüge werden ihr das Herz brechen. Nimm sie, Daisy. Tu es für mich (und für deinen Kleiderschrank :-)).
Das Zweite, worum ich dich bitte: Kümmere dich um meinen Bruder.
Er will immer stark sein, mimt den Coolen, weil er glaubt, dass das von ihm erwartet wird. Aber er und ich stehen uns so nah ... die Welt wird für ihn zusammenbrechen. Ich weiß, dass du ihm viel bedeutest und möchte, dass du für ihn da bist.
So viele Dinge möchte ich dir noch sagen, aber ich muss jetzt los, ins Krankenhaus. Ich hoffe, dass du diesen Brief nie liest, aber falls doch, sollst du wissen, dass du einzigartig und schön und lustig bist und ich froh bin, dich als meine Freundin gehabt zu haben. Meine beste Freundin.
In Liebe,
Audrey.
Die Sache mit der Kleidung war kein Problem, doch was Audreys zweiten Wunsch angeht, habe ich nicht das Gefühl, ihn besonders gut zu erfüllen. Ich schreibe Matt eine SMS und als ich nach einer halben Stunde keine Antwort erhalten habe, frage ich mich, ob ich zu lange gewartet habe, bis ich wieder Kontakt zu ihm aufgenommen habe. Ob er bereits mit allem abgeschlossen hat.
Keine sechs Stunden später klopft Mason an meine Zimmertür und teilt mir mit, dass er morgen nach Washington D.C. fliegt.Cassie wird hier bei mir bleiben, während Mason Nachforschungen über Gotts neueste Aktivitäten anstellt.
Als ich das Licht ausschalte, stelle ich mir vor, dass Matt neben mir liegt, und die Vorstellung beruhigt mich ein wenig. Dennoch schwirren nach wie vor Bilder von Unfällen und gesichtslosen Männern in meinem Kopf herum, sodass ich ewig lange nicht einschlafen kann und dann am nächsten Morgen erst um elf Uhr aufwache.
Im Haus ist es still.
Alle sind fort.
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
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Lustlos kaue ich auf trockenem Müsli herum. Wenn ich an Masons Reise denke, wird mir immer unbehaglicher zumute. Nervös klopfe ich mit den Fingern auf den Tisch, während ich mir die verschiedenen Szenarien ausmale.
Schlimmstenfalls wird Gott wegen grausamer Verbrechen schuldig gesprochen und niemand wird bereit sein, solch ein Programm fortzuführen. Damit würde meine Welt, wie ich sie kenne, zusammenbrechen. Das Gott-Projekt wird beendet werden und man wird vielleicht über eine neue Studie mit neuen, willigen Teilnehmern nachdenken. Doch wütende Revive-Kids werden aussagen und die Zeitungen werden den Staat beschuldigen, das Wundermittel bewusst zurückgehalten zu haben. Dieser wird dann die Existenz des Mittels leugnen, bis von Revive nicht mehr als der Mythos übrig bleibt und niemand mehr Zugang dazu hat.
Nicht einmal ich.
Was wird aus mir werden, wenn uns das Programm nicht mehr zusammenhält? Was wird aus Megan und mir? Und natürlich aus Mason und mir? Bei wem werde ich leben?
Ich schüttele den Gedanken an Heimatlosigkeit ab und überlege mir ein erfreulicheres Szenario.
Bestenfalls gibt es eine
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