Die fünf Leben der Daisy West
dem großen Wohnzimmerfenster in den Garten. Eine Reihe Bäume begrenzt des Grundstücks am hinteren Ende. Unter einem der Bäume in der Mitte ist ein wunderbarer Platz zum Lesen.
Ich hole eine Decke und stürme, geradezu süchtig nach frischer Luft, durch die Terrassentür und über die Terrasse auf die Wiese. In anderen Teilen des Landes schneit es bereits, während es hier immer noch so warm ist. Seltsam, so ein Ort ohne Jahreszeiten. Je weiter ich mich vom Haus entferne, desto höher wird das Gras. Als ich bei den Bäumen ankomme, reicht es mir bis über die Wade. Ich werfe die Decke auf den Boden und mache es mir, mit dem Rücken gegen einen Stamm gelehnt, darauf bequem.
Dann öffne ich das Buch und versuche mich darauf zu konzentrieren, doch es gelingt mir nicht, die Worte machen keinen Sinn. Nachdem ich die ersten drei Seiten drei Mal gelesen habe, gebe ich auf. Ich lege das Buch neben mich, neige den Kopf zur Seite und schließe die Augen. Gerade beginne ich mich zu entspannen, als dasKlingeln meines Handys mich zusammenfahren lässt. Ich ziehe es aus der Tasche. Sofort spüre ich ein Kribbeln im Magen, es ist Matt.
»Du rufst zurück«, stelle ich fest.
»Hab ich doch gesagt«, antwortet Matt leise. »Hast du es nicht geglaubt?«
»Ich ... nein«, gestehe ich.
»Ich muss mich entschuldigen«, beginnt er. »Dafür, dass ich nicht auf deine Mail oder deine SMS reagiert habe. Die letzte Zeit war schwer. Aber nachdem ich vorhin mit dir gesprochen habe, ist mir etwas bewusst geworden. Du bist die einzige Person auf Erden, die mir das Gefühl gibt, dass es wieder besser werden kann.«
»Wow«, sage ich kaum hörbar.
»Was?«
»Ich meine ... mir geht es genauso. Wenn wir die ganze Zeit zusammen wären, ginge es mir deutlich besser.«
»Es ist erstaunlich«, sagt Matt nachdenklich. »Du hattest das verrückteste Leben, das man sich vorstellen kann und trotzdem ... werde ich nur bei dir ruhig. Alles ist irgendwie klarer.«
Einen Moment lang hören wir uns gegenseitig beim Atmen zu.
»Willst du über Audrey sprechen?«, breche ich dann das Schweigen.
»Eigentlich nicht«, erwidert er. »Meine Eltern wollen unbedingt, dass ich zu einem Therapeuten gehe. Und dort spreche ich die ganze Zeit nur über Audrey.«
»Verstehe«, antworte ich und wechsele das Thema. »Bist du ... auf dem Weg zurück in die Schule?«
»Noch nicht«, sagt Matt. »Ich bin nach Hause gekommen, um meine Mutter zu einem Termin zu bringen. Ihr eigenes Auto ist in der Werkstatt. Erst wenn ich sie wieder abgeholt habe, fahre ich zurück. Sicher werde ich einen Teil der nächsten Stunde verpassen, aber das ist jetzt auch egal, nach alle dem, was ich sowieso schon verpasst habe.«
»Völlig richtig«, pflichte ich ihm leise bei.
Eine Pause entsteht, bevor er hinzufügt: »Wenn meine Mutter anruft, muss ich allerdings wieder Schluss machen.«
»Okay, kein Problem«, beeile ich mich, ihm zu versichern.
»Aber ich verspreche, wieder anzurufen«, sagt er.
Ich spüre förmlich sein Lächeln und erwidere, nun ebenfalls lächelnd: »Das würde ich dir auch raten.«
Pause.
»Du hast zwar gesagt, dass du nicht darüber reden willst, aber ist alles in Ordnung bei dir?«, erkundigt sich Matt dann. »Ihr seid mal wieder so plötzlich aufgebrochen und jetzt seid ihr in ... Wo seid ihr noch mal?«
»In Texas«, stöhne ich. »Und ja, mir geht es gut. Alles okay. Im Moment geht gerade so einiges vor sich, aber ich hoffe, dass bald alles aufgeklärt ist. Danke der Nachfrage.«
»Gern«, antwortet Matt und ich meine, ein wenig Enttäuschung in seiner Stimme zu hören, als hätte er sich mehr Offenheit von mir gewünscht. Doch dann fragt er weiter: »Und wie ist es so in Texas?«
»Öde«, antworte ich. »Zumindest, wo wir sind.«
»Ich dachte immer, Texas wäre cool?«, wundert sich Matt.
»Teile davon vielleicht, aber Hayes? Hayes ist das genaue Gegenteil von cool.«
»Heiß«, witzelt Matt.
Ich wische mir mit der Hand über die Stirn. »Heiß ist es auf jeden Fall«, sage ich lachend. »Ich schwitze hier wirklich wie ein Schwein!«
Matt lacht ebenfalls. Ich liebe diese Lachen so sehr, dass es schmerzt. Trotzdem, zumindest für den Moment ist die Stimmung richtig gut. Wir unterhalten uns darüber, ob Schweine tatsächlich so sehr schwitzen und es fühlt sich so leicht und normal an, dass der Satz, der mir schon lange auf der Zunge liegt, einfach aus mir heraussprudelt: »Ich möchte richtig mit dir zusammen sein.«
»Und ich mit dir«,
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