Die fünf Leben der Daisy West
stellt nun doch noch die Frage.
»Darf ich dich noch um einen anderen kleinen Gefallen bitten?«, sagt er und hält inne, um eine Antwort abzuwarten. »Super, danke. Daisy braucht ihren Schulrucksack. Er ist rot, mit einem schwarz-weißen Aufnäher vorne drauf. Ich glaube, er liegt in ihrem Zimmer ... Warte mal.«
Er sieht mich an.
»Ja, rechts vom Schreibtisch auf dem Fußboden«, bestätige ich.
Mason wiederholt die Anweisungen und willigt ein zu warten, während David danach sucht. »Nein, rechts hat sie gesagt.« Wieder eine Pause. »Ja, tu das«, sagt er dann.
Ich nehme noch einen Bissen von meinem Toast und warte auf die Nachricht, dass der Rucksack auf dem Weg hierher ist. Ohne mich anzusehen, lauscht Mason weiter Davids Erklärungen.
»Das kann ich gar nicht glauben«, sagt er. »Nichts im ganzen Haus fehlt, außer einem Schulrucksack? Das schließt einen Zusammenhang mit dem Programm und seinen Leuten wohl aus.«
Tut es nicht , denke ich und mein Magen zieht sich zusammen. Ich lege das Toastbrot ab. Der Appetit ist mir vergangen.
Ich bin mir sicher, dass der Rucksack wegen Fall 22 gestohlen wurde.
Und somit hat es sehr wohl mit dem Fall zu tun.
Es hat sogar mit Gott höchstpersönlich zu tun.
Als Mason aufgelegt hat, halte ich ihn auf, bevor er aus dem Raum eilen kann. »Ich muss mit dir reden«, sage ich ernst und er horcht auf. »Mit Cassie ebenfalls.«
»Gut«, willigt Mason ein. Er wirkt besorgt. »Ist alles in Ordnung?«
»Nicht wirklich«, antworte ich. »Lass uns Cassie holen, dann erkläre ich euch, worum es geht.«
Sobald meine Pseudo-Eltern mir gegenüber am Tisch sitzen, beginne ich, meine Theorie vorzutragen – notgedrungen nun doch ohne meine Notizen.
»Ich glaube, dass Gott Nora Fitzgerald umgebracht hat«, sage ich ohne Umschweife und sehe erst Mason, dann Cassie direkt in die Augen. Mason zieht fragend die Brauen zusammen. Cassie blickt so überrascht, wie es in ihren Möglichkeiten steht.
»Das ist eine schwere Anschuldigung, Daisy«, ergreift Mason schließlich das Wort. »Wie kommst du darauf?«
»Nun ja, nachdem Nora mich in dem Food Court gesehen hat, war ich im System und bin auf einen Ordner für Fall 22 gestoßen.« Dass ich zuvor Matt in das Gott-Projekt eingeweiht hatte, erwähne ich nicht.
Mason sieht mich an, als hätte ich gerade behauptet, die Erde sei eine Scheibe.
»Es gibt nur 21 Fälle«, widerspricht er.
»Ich weiß«, erwidere ich. »Aber dort war noch einer. Natürlich war ich neugierig und habe den Ordner geöffnet, doch der Name war vertraulich. Als Ort, in den die Person umgesiedelt wurde, war Franklin, Nevada, angegeben.«
»Aha ...« Mason sieht mich abwartend an, während Cassie unruhig auf ihrem Stuhl hin und her rutscht und auf die Uhr schaut. Ich weiß, dass sie gern zu ihrer Arbeit zurückmöchte.
»Ich habe Megan davon erzählt«, fahre ich fort. Cassie nimmt sofort mit Mason Blickkontakt auf und funkelt ihn bitterböse an. Wahrscheinlich ist sie sauer, dass er mir überhaupt Zugang gewährt hat.
»Daisy, du weißt doch, dass du alles, was du dort erfährst, für dich behalten sollst. Das ist ganz wichtig«, mahnt Mason.
»Ist ja gut«, beschwichtige ich ihn. »Aber Megan spielt gar keine Rolle. Wir haben nur gemeinsam ein bisschen im Internet gesucht und diesen Artikel aus Frozen Hills gefunden. Darin wurde berichtet, dass Nora Fitzgerald bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Aber dann haben wir sie quicklebendig auf Facebook gesehen.« Jetzt ist es Cassie, die mich verstört ansieht, und ich fürchte sofort, dass sie nachfragen wird. Zwar verdrehe ich die zeitliche Abfolge ein wenig und unterschlage Davids Unterstützung, aber im Großen und Ganzen erzähle ich ziemlich exakt, wie es war. Allerdings rattere ich das alles schnell herunter, in der Hoffnung, dass sie nicht genauer nachhakt.
»Jedenfalls habe ich mit Nora gesprochen«, fahre ich fort. Mason fällt fast die Kinnlade hinunter und Cassie holt hörbar Luft.
»Du hast mit einem Mädchen gesprochen, das dich für tot hält?«, fragt Mason und richtet sich in seinem Sitz auf.
»Siehst du!«, fährt Cassie ihn an. »Du gibst ihr zu viel Freiheit. Das hast du jetzt davon.«
»Ihr beide seht überhaupt nicht, worum es geht«, rege ich mich auf. »Es geht darum, dass Nora – ganz gezielt – getötet und anschließend umgesiedelt wurde, weil sie von mir wusste. Aber ihr wurde nicht die Wahrheit gesagt. Sie glaubt, dass ihre Familie Teil eines Zeugenschutzprogramms
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