Die fünf Leben der Daisy West
einleuchtende Erklärung für Gotts Aktionen und das Programm wird weiterlaufen wie bisher. Gemeinsam mit den anderen Revive-Kids werde ich weitere neunzehn Jahre im Gott-Projekt bleiben. Nach Ablauf dieser Zeit wird die Behörde für Lebensmittelüberwachung und Arzneimittelzulassung – sofern eskeine großen Rückschläge gibt – Revive hoffentlich zulassen und die Behandlung damit im kleinen Rahmen und streng kontrolliert genehmigen, wahrscheinlich zuerst für das Militär. Langsam und vorsichtig wird es dann auch für die Allgemeinheit eingesetzt werden, sodass mehr Leben gerettet werden können.
Doch leider werde ich das Gefühl nicht los, dass dieser beste Fall so großartig nicht ist. Die letzten Monate haben mir die Augen geöffnet. Wird das Programm für mich, mit dem Wissen, das ich jetzt habe, noch das Gleiche sein? Werde ich, wenn ich mir die Ordner derer anschaue, die nicht auf Revive reagiert haben, immer daran denken müssen, dass sie keine weiteren lebensrettenden Maßnahmen bekommen haben? Werde ich Gavins Eltern bei meinem nächsten Besuch in New York noch genauso gern mögen – nun, da ich mir bewusst gemacht habe, dass man ihn seiner richtigen Mutter weggenommen hat? Werde ich, wenn ich an Audrey denke, immer das Gefühl haben, dass ich ihr etwas Entscheidendes vorenthalten habe?
Werde ich, wenn ich Matt in die Augen sehe, je das Gefühl haben, dass er sicher ist?
Es sind keine beruhigenden Antworten in Sicht und ich fröstele in meinem Nachthemd, obwohl es in dieser texanischen Hölle so heiß ist. Ich stehe auf, wasche meine Müslischüssel in der Spüle aus und beschließe, nicht weiter über Masons Unternehmung nachzudenken. Er sitzt noch nicht einmal im Flugzeug und sein Treffen findet erst morgen statt. Ich kann mir also später darüber Gedanken machen.
Für den Moment beschließe ich, mich auf Matt zu konzentrieren.
Nachdem ich mich vergewissert habe, dass er nach wie vor nicht auf meine E-Mail oder meine SMS geantwortet hat, wähle ich seine Nummer.
»Hi«, grüßt er, als hätte er bereits darauf gewartet, dass ich mich bei ihm melde.
»Ähm, hi«, stammele ich überrascht, denn ich war fest davon ausgegangen, dass die Mailbox rangeht. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass in der Schule gerade die Mittagspause begonnen hat.
Für einen Moment schweigen wir beide und ich frage mich, ob er an den Tag denkt, an dem wir uns zum letzten Mal gesehen haben, denn daran denke ich.
»Wo bist du?«, frage ich, da im Hintergrund kein Geräusch zu hören ist.
»In unserer Küche«, antwortet er. »Wo bist du? Warum warst du nicht in der Schule?«
»Texas«, antworte ich.
» Was ?! Wieso?«
»Das ist eine lange Geschichte. Es hat etwas mit dem Programm zu tun. Aber ich will im Moment nicht darüber sprechen, okay?«
»Einverstanden.«
Pause.
»Matt, ich wollte ...« Ich breche den Satz ab, weil ich mir plötzlich nicht mehr sicher bin, was ich eigentlich wollte. Stattdessen frage ich: »Hast du meine E-Mail bekommen?«
»Ja«, antwortet er leise. »Die SMS auch.« Und dann, als ich mit einer Entschuldigung rechne, dass er nicht darauf reagiert hat, sagt er einfach: »Danke.«
»Gern geschehen.«
»Danke auch für die Aktion für Audrey«, schiebt Matt hinterher. »Die Texte.«
»Ich hatte gar nicht vor, so etwas Großes in Gang zu setzen«, sage ich. »Ich wollte ihr nur irgendetwas geben und ein Zeichen setzen.«
»Ich weiß«, sagt Matt. »Ich weiß, was du meinst.«
»Ich vermisse sie«, flüstere ich. Er antwortet nicht. Seine Mutter sagt im Hintergrund etwas zu ihm.
»Ich muss jetzt aufhören«, teilt er mir mit. »Kann ich dich später wieder anrufen?«
»Sicher«, antworte ich, doch die Enttäuschung ist meiner Stimme anzuhören.
»Gut, das mache ich. Ciao.«
Matt legt auf, noch bevor ich die Chance habe, mich ebenfalls zu verabschieden.
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
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Ich schaue auf mein Handy, weil ich wissen will, wie spät es ist. In wenigen Minuten startet Masons Flieger. Zumindest wird Cassie bald vom Flughafen zurück sein und ich bin dann nicht mehr allein. Auch wenn ihre Anwesenheit sich nicht unbedingt anfühlt, als hätte man Gesellschaft.
Niedergeschlagen, weil ich befürchte, Matt jeden Tag mehr zu verlieren, greife ich nach einem Buch und gehe die Treppe hinunter ins Erdgeschoss des Hauses. Ich will mich schon auf dem schmuddeligen Sofa niederlassen, da besinne ich mich eines Besseren und schaue aus
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