Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition)
der zum ersten Mal Richtung Süden aufbricht.
Es ließ sich von seinem
Aussichtspunkt hinunterfallen, um sein kleines Reich zu erkunden. Mit
entspannten Kufenschwüngen fuhr es die Küste entlang und beobachtete, wie die
Wellen an den Rändern der Eisscholle fraßen. Sein Tiefenselbst teilte ihm mit,
dass die Insel hochgerechnet in 27 Tagen verschwunden sein würde, und empfand
dabei eine fiebrige Vorfreude. Bladerunner achtete nicht weiter darauf. Es
stellte fest, dass das Packeis zur Mitte seiner Insel hin an vielen Stellen
dünn und aufgerissen war. Es würde sich vorsichtig bewegen müssen, um nicht aus
Versehen hindurch zu brechen. Während Bladerunner sich die offenen Stellen
einprägte, nahmen seine Raubtiersinne eher beiläufig ein Leben wahr, das mühsam
aus einem der Wasserlöcher hervorkroch.
Das Tier war klein, feucht und
schneckenartig. Bladerunner hatte noch immer wenig Hunger, aber die Instinkte
eines Sturmfängers ließen ihm keine andere Wahl, als zu töten. Mit einer
eleganten Bewegung ergriff es das Wesen, das ihm abwehrend einige schwache
Tentakel entgegenstreckte, biss zu und schmeckte das Blut, das seine Kehle
hinab floss. Das Fleisch war süß, und tief im Inneren des Tieres verborgen
befand sich ein Kern aus elektrisch prickelnder Energie.
Bladerunner erkannte den
Geschmack. Sein ererbtes Gedächtnis erinnerte sich gut daran, und es fühlte
eine Mischung aus Furcht und Ekstase. Zum ersten Mal hatte es ein Mitglied
seiner eigenen Art verzehrt. Die Verwandlung begann.
Wie soll man das Gefühl
beschreiben? Es gibt in der menschlichen Sprache keine Worte dafür.
Sein bisheriges Ich wurde
fortgeschwemmt, als würde es in einem Champagnerbad ertrinken. Fremde
Erinnerungen vermischten sich mit dem klaren Eiswasser seiner Raubtiergedanken.
Es fühlte sich selbst schneckenartig über Algenfelder kriechen, es fühlte sich
zwischen Raubtierzähnen bluten. Zwei Leben endeten und verschmolzen zu einem
neuen. Bladerunner starb damals zusammen mit Kieme, seiner Beute.
Aus ihrer Vereinigung wurde der
Ahne geboren.“
Caravan stand auf einem großen runden
Platz und blinzelte heftig. Sein Getrauter hatte sich auf die Meinung
versteift, dass Caravan irgendwann vor die Tür gehen musste. Aber die bizarre
Welt des Stroms, die verborgen hinter allen Dingen lag, verunsicherte ihn noch
immer.
Außerdem fiel es ihm bei diesen
vielen Menschen schwer, sein Verhalten anzupassen. In jeder neuen
Stadtlandschaft, in die Serail ihn führte, musste er sich erneut anstrengen, um
mit seiner Umgebung zu verschmelzen und nicht länger aufzufallen. Es gab so viele
Regeln, die er nicht kannte. Heute Mittag zum Beispiel hatten sie sich ihr
Essen aus einem Restaurant-Recycler geholt. Kaum hatten sie sich in die
Warteschlange gestellt, war eine Pompadour auf ihn zugeschlendert, hatte ihm
zugezwinkert und ihr Kleid zu Boden fallen lassen. Sie hatte ihn auffordernd
angesehen, und sein Instinkt hatte verlangt, dass er ihr Verhalten kopierte. Doch
Serail hatte ihm verboten, sich auszuziehen. Anscheinend betrachtete er
Nacktheit als unschicklich.
Aber wenn diese Analyse richtig
war, warum befanden sie sich jetzt an einem Ort, wo niemand Kleidung trug?
Verwirrt schaute Caravan auf eine
Ansammlung gepolsterter Liegestühle, die über den Platz verteilt standen. Wenn er
das Implantat ausschaltete – Caravan fühlte beim Blinzeln immer noch einen leichten
Schwindel – breitete sich weißer Sand unter seinen Füßen aus, und Bäume mit
kahlen Stämmen und großen Blättern an der Spitze wiegten sich im Wind. Rundum
befand sich türkisblaues Wasser, die Sonne strahlte gleißend auf ihn herab.
Serail hatte ihm erklärt, dass es sich um UV-Lampen handelte, von denen die
Haut braun wurde. Er behauptete, verbrannte Haut sei schön. Der größte Teil der
Menschen auf den Liegestühlen trug als einzige Bekleidung dunkle Sonnenbrillen.
Serail hatte sich bereits
ausgezogen und hingelegt. Er trug nur noch seinen Gildenschmuck, der bei jeder
Bewegung auftauchte und verschwand. Jetzt winkte er auffordernd und etwas
ungeduldig mit der Hand, so dass der silberne Armreif zu flackern schien.
Caravan ging gehorsam auf ihn zu und spürte Sand unter den nackten Fußsohlen,
obwohl er in Wirklichkeit feste Schuhe trug. Die Stromillusion ging davon aus,
dass jeder hier barfuß lief und vermittelte ein entsprechendes Gefühl. Caravan
vermied es, noch einmal nach unten zu schauen. Es machte ihn nervös, etwas
anderes zu spüren, als seine Augen
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