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Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition)

Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition)

Titel: Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Nolte
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Logisches Denken
verfolgte den Ablauf von Ursache und Wirkung, ordnete die Dinge in ihre
zeitliche Reihenfolge: Drücke den rechten Hebel und in naher Zukunft wird
Wasser über deine Hände fließen. Serail lehrte ihn Worte, und bald hatte
Caravan begonnen, seine Umgebung mit anderen Augen wahrzunehmen. Er lernte,
seine Gedanken in eine klar erkennbare Form zu pressen; alles erschien mit
einmal scharf und deutlich. Eine Kerze war nur eine Kerze, egal was sein
Urzeitbewusstsein über Feuer sagte, und die flackernden Schattengestalten an
der Wand waren nur harmlose Schatten an der Wand.
    Serail war kein einziges Mal
ungeduldig geworden. Er hatte ihm diese wunderbare Welt geöffnet, und Caravan
liebte ihn dafür. Es spielte keine Rolle, dass er sich an ihre frühere Beziehung
nicht erinnern konnte. Serail war seine Familie. Caravan klammerte sich an
seiner Nähe fest wie ein Kind an seine Hortmutter ... (das war ein
gebräuchlicher Vergleich; enge Elternbindung, lange Aufzuchtphase; noch heute
Morgen bei der Hortbesichtigung hatte er Babys für eine andere Tierart gehalten)
… Manchmal war es nicht leicht, nur mit logischem Denken ausgerüstet in diese
Welt geworfen zu werden. Sich die Realität neu erschaffen zu müssen, jede
kleinste Selbstverständlichkeit aus einer langen Kette von Schlussfolgerungen
herzuleiten. (Sogar die Tatsache, dass er von derselben Spezies war wie diese
winzigen, strampelnden, in hohen Tönen brüllenden Wesen. ‚So sind Babys eben’,
hatte Serail gesagt. ‚Nein, ich habe selbst keins bekommen, das können nur
Frauen.’ Als Caravan nach näheren Details fragte, war Serail rot geworden und
hatte das Thema gewechselt.)
    Jetzt ließ Caravan seinen Blick
über die Insel schweifen und speicherte jedes Detail in seinem Gedächtnis.
Alles konnte von Bedeutung sein. Die Verhaltensregeln unter Menschen waren
kompliziert, und man konnte mit jeder Kleinigkeit unangenehm auffallen. Ein
echtes Problem waren zum Beispiel die Getränke. Allein hier auf der Insel
benutzte man zum Trinken ein Dutzend verschiedener Methoden: Flaschen,
Strohhalme, Tassen und vierzehn verschieden geformte Gläser. Welches Gefäß
gehörte zu welcher Flüssigkeit? Wenn er Pech hatte, reichte es aus, den falschen
Trinkbehälter zu wählen, um von allen angestarrt zu werden. Er hasste es, wenn
sie das taten.
    Serail behauptete, auf der Arche
müsse man schon auf den Händen laufen und Seemanns-Shantys singen, um
aufzufallen. Aber Serail war schließlich … nun ja, eben Serail. Leichtlebig,
glamourös und süchtig nach Aufmerksamkeit. Sein Ego war so ausgeprägt, dass er
missbilligende Blicke einfach nicht bemerkte.
    Caravan dagegen besaß ein
überwältigendes Bedürfnis sich anzupassen und normal zu wirken. Schon
eine hochgezogene Augenbraue genügte, damit er sich vorkam, als stünde er unter
einem Scheinwerfer und alle würden mit dem Finger auf ihn zeigen. Die ersten
zwei Stunden des heutigen Ausflugs waren ein Alptraum gewesen. Inzwischen allerdings
hatte ihn schon eine Weile niemand mehr befremdet angeschaut. Denn Caravan
hatte unheimlich schnell gelernt, sich wie ein typischer Crew zu benehmen.
    Er entspannte sich noch ein wenig
mehr und setzte seine Beobachtungen fort. Am rechten Inselrand sah er einen
Baum, an dem ein waagerechtes Brett hing. Es war mit zwei Seilen in der Höhe
befestigt, und darauf saß eine nackte Frau. Sie wurde von einer anderen Frau wiederholt
gestoßen, aber schien darüber nicht verärgert. Durch die Stöße bewegte sich das
Brett heftig vorwärts und rückwärts, so dass es aussah, als würde die Frau
jeden Augenblick herunterfliegen. Ihr langes Haar flatterte in der Luft, und
sie lachte, als sie fast drei Meter über dem Boden schwebte und dann
zurücksauste. Seltsamerweise schien ihr dieser Zustand zu gefallen.
    An der höchsten Stelle schwenkte
das Brett über eine Liege, die von einem seltsamen Geschöpf belegt war. Es
musste sich um einen Menschen handeln, da es an Bord keine anderen Lebewesen
gab. Der Passagier schien vor allem aus einer Haarmähne, Tierleder und
abgenagten Knochen zu bestehen, die ihm an Bändern um den Hals hingen. Warum
ausgerechnet Knochen? Schleppte der Mann einen Rest Mittagessen mit sich herum?
War er ein Chirurg mit Berufssymbolen? Wollte er zeigen, dass seine
Antiqui-Behandlung versagte und er demnächst sterben würde?
    Serail war seinem Blick gefolgt
und kam ihm mit einer Erklärung zur Hilfe. „Das ist ein Eremit.“
    „Ein Eremit?“, wiederholte
Caravan.

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