Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition)
Randori bewusst,
dass zwischen den Opfern der Schlägerei altertümliche Holzkreuze verstreut
waren. Endlich machten auch die Mönchskutten und verrußten Gesichter einen
Sinn. Was sie vor sich sah, waren die Reste einer Prozession. „Man hat eine
Büßergruppe angegriffen?“, fragte sie ungläubig.
„Sie hatten Plakate dabei. ‘Stoppt
die Kolonialpolitik’, ‘Kein zweiter toter Planet!’. Das hat vielen Pass… vielen
Passagieren nicht gefallen. Ein paar sind auf die Pilger losgegangen, andere
sind ihnen zur Hilfe gekommen, und schon brach der Krawall aus.“
Randori nickte. Zwar waren
Traditionen wie die Walfangtage in Vergessenheit geraten, doch es war nur allzu
leicht, sie in der augenblicklichen Situation wiederzubeleben.
Sie suchte aus ihrer Erinnerung
die Legende vom Walfang hervor. Ihre Großmutter hatte ihr den Text oft
hergesagt, denn sie war eine Schamanin und glaubte an solche Dinge. Damals
waren die Schamanen noch eine beeindruckende Gilde gewesen, voller Mystiker und
Wahrheitssucher, und nicht nur ein Haufen ungewaschener Fanatiker. Die meisten
Gilden schienen im Laufe der Zeit zu verkommen, wurden zu verzerrten Schatten
ihrer selbst …
Aber sie wollte jetzt nicht über
Langzeitpsychosen auf Raumschiffen nachdenken, sondern sich die Legende in
Erinnerung rufen. Wie ging noch die Anfangsstrophe?
‚Der Letzte sang im Nordmeer für
die Toten. Echos waren die einzige Antwort, denn er war der Letzte.’
Kitschig, dachte Randori. Sie war
kein Kind mehr. Warum lief ihr immer noch eine Gänsehaut über den Rücken, wenn
sie die Legende aufsagte? Wahrscheinlich lag es daran, dass sie so gut das
Entsetzen nachfühlen konnte, das die Strophen vermittelten.
Aus dem Geschichtsunterricht
wusste sie, mit welchen Erwartungen und Sehnsüchten das Weltraumzeitalter
begonnen hatte. Man hoffte, anderes intelligentes Leben im All zu finden. Viele
Wissenschaftler behaupteten, statistisch gesehen müsse der Weltraum vor Leben
überquellen. Doch die Suche verlief mehr als zwei Jahrhunderte ergebnislos,
trotz immer perfekterer Methoden. Am Ende erschien das Universum als eine tote
Wüste, in der als einzige zerbrechliche Ausnahme der blaue Planet schwebte.
Dieses Bild verstörte die Menschen zutiefst. Waren sie wirklich allein?
Die Antwort auf diese Frage kam
völlig überraschend.
Ein Team von Wissenschaftlern
hatte einen neuartigen Sprachcomputer entwickelt. Um die Grenzen seiner
Fähigkeiten zu testen, benutzten sie Tonaufzeichnungen von Meeressäugern. Sie
erwarteten keine Sensation. Tatsächlich zeigte keine Wal-und Delphinrasse mehr
Verstand als ein dressierter Schimpanse. Mit einer Ausnahme.
Dr. Claire Roseburg verständigte
die Presse, als ihr Computer die Gespräche einer relativ unbekannten Walart
übersetzte. Sie hatten eine hochkomplexe Sprache, Kultur, sogar eine fremde Art
von Mathematik. Man versuchte, die Wale in freier Wildbahn zu finden. Die Öffentlichkeit
wartete mit fieberhafter Spannung auf den Erstkontakt, die Medien heizten die
Erwartungen an. Dann entdeckte man das letzte Exemplar dieser einheimischen
Aliens. Es war fünf Tage zuvor erlegt worden und befand sich in Stücke
geschnitten auf dem Weg zur Konservenfabrik.
Vielleicht wäre der Völkermord in
Vergessenheit geraten, wie so vieles, an das man sich nicht erinnern wollte.
Aber dann kam die Plentagens-Katastrophe, die Vernichtung des Lebens ebenfall
innerhalb von fünf Tagen, die überstürzte Flucht in den Weltraum.
Der Tod der Wale hatte keinen
direkten Zusammenhang mit dem Tod der Erde. Doch im Gedächtnis der Menschheit
wurde daraus eine symbolische Einheit, eine Kette von Verbrechen, die zur
zweiten Vertreibung aus dem Paradies geführt hatten. Man brauchte Symbole und
Legenden, um das Unbegreifbare begreifbar zu machen. Der erste Kapitän von
Arche 32 schuf die Walfangtage als ein Fest der Trauer und Buße. Die
Schuldgefühle, die das Schiff zu zerreißen drohten, bekamen ein Ventil, wurden
durch Zeremonien und eine festgelegte Sühnezeit aufgefangen. An fünf Tagen in
jedem Jahr der Reise gab es eine Orgie der Selbstzerfleischung. Man wälzte sich
in der Erinnerung an alles, was zerstört worden war, sammelte sich in den
Hallen zu Massenselbstmorden und blutigen Ritualen. Nur so war es möglich, für
den Rest der Zeit ans Überleben zu denken.
Auf diese Weise überstand die
Arche den Beginn der Reise. Die Raumfahrttechnik war eigentlich nicht
fortgeschritten genug für einen jahrzehntelangen Exodus. Im Rückblick war
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