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Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition)

Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition)

Titel: Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Nolte
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in die Tiefe, Richtung Süden. Es tauchte in die
Wolkendecke einen Kilometer tiefer, wurde immer schneller, während der kalte
Wasserdunst an seinem Körper vorbeistiebte. Die befruchteten Sporen auf seiner
Haut vertrugen die niedrigen Temperaturen der oberen Atmosphärenschichten nur
etwa eine halbe Stunde. Sie brauchten ungefrorenes, warmes Wasser. Das Leittier
hatte den Schwarm bereits weit nach Süden gelenkt, um den Weg zu verkürzen,
aber dennoch musste es sich beeilen. Es fiel wie ein Stein und stieß blind, in
rasender Geschwindigkeit durch die Wolken. Dann war es hindurch, und gefährlich
nah sah es das Meer unter sich liegen.
    Mit heftigen Flügelschlägen
versuchte es den Aufprall abzufangen, blies so viel Helium in seinen Körper,
wie es in einigen Sekunden produzieren konnte. Die flache, harte Wasseroberfläche
kam auf Passat zu, und es legte die Flügel eng um seine empfindliche Körperblase,
als es hindurchstürzte. Schmerzhaft schlug das Meer über ihm zusammen und riss
die angeklebten Sporen von seiner Haut. Es war vollbracht. Der letzte Akt der
Fortpflanzung war vorüber.
    Passat ließ sich erschöpft an die
Oberfläche treiben. Dort ruhte es eine Weile, bevor es genug Kräfte gesammelt
hatte, um sich wieder in die Luft zu erheben. Die Sporen würden im Wasser
reifen, sich eine treibende Insel zum Wachsen suchen und schließlich in den Himmel
aufbrechen, um einen weiteren Zyklus des Lebens und Sterbens einzuleiten.
    Passat tat es den Fallschirmen
gleich, trudelte langsam nach oben, ohne die Flügel zu benutzen. Sein
Orientierungssinn sagte ihm, wo sich der Schwarm ungefähr aufhalten musste, und
es ließ sich von einer hohen Luftströmung in diese Richtung tragen. Allmählich
war es wieder genug zu Kräften gekommen, um mit den Flügeln zu schlagen und den
Kurs zu korrigieren. Endlich roch es den würzigen Duft von ausgestoßenem Helium
und folgte dieser Spur. Der Geruch wurde stärker, während es sich dem Schwarm
näherte. Fast war es schon bei den anderen, da wurde es Zeuge einer eigentümlichen
Szene: Vor ihm, wo der Wind heftige Wirbel bildete, tanzte ein einsamer Gleiter
in den Sturmböen. Mit plötzlichen Wendungen und Pirouetten ließ er sich von den
Winden fortreißen. Sein Körper glitt schwerelos durch die vielfarbig
schillernden Luftschichten, wurde von klarem Blau in die Höhe geworfen und von
milchigem Opal aufgefangen. Dann wirbelte er wieder in einem scharfen Bogen
empor, so dass die Spitzen seiner Flügel die Luft zu flammendrotem Schaum
schlugen. Jede Bewegung war kontrolliert und kraftvoll, und man sah seinem Tanz
das tiefe Vergnügen an. Sein Flug sprach von Einsamkeit und Freiheit, von einem
Leben jenseits der starren Gruppenformation. Passat verstand seine Gefühle.
    Mit den Himmelsströmungen zu
fliegen, löste auch in seinem Tiefenselbst ein scharfes, hungriges Glücksgefühl
aus. Doch das lag daran, dass es selbst kein Heliumgleiter war. Die anderen
waren Schwarmtiere ohne die Sehnsucht nach Freiheit, und das Fliegen war für
sie nur eine Methode, um von einem Punkt zum anderen zu gelangen. Dieser
Gleiter benahm sich sehr ungewöhnlich.
    Er unterbrach abrupt seinen Tanz,
als er Passats Anwesenheit bemerkte, versuchte gleichgültig auszusehen und ließ
sich mit den üblichen ruhigen Flügelschlägen forttreiben. Doch Passat folgte
ihm, bis sie beim Schwarm angekommen waren. Es reihte sich in die Formation
ein, aber behielt den anderen im Auge. Es hatte einen bestimmten Verdacht.
    In den nächsten Tagen beobachtete
sein Tiefenselbst den Gleiter und bemerkte viele kleine Abweichungen in seinem
Verhalten. Sie waren so gering, dass sie normalerweise niemandem aufgefallen
wären. Der Andere bevorzugte bestimmte Gleiter und hielt sich öfter in ihrer
Nähe auf. Er schien die Mitglieder des Schwarms als Einzelpersonen wahrzunehmen,
die ihm sympathisch oder unsympathisch waren. Bei den Jagdflügen hatte der
Andere immer einen vorteilhaften Platz in der vorderen Reihe. Er suchte sich
seine Position aus, anstatt wie die übrigen mit dem zufrieden zu sein, was sich
zufällig ergab. Anscheinend betrachtete er auch sich selbst als Einzelperson
mit eigenen Interessen, anstatt nur ein beliebiger Teil des Schwarms zu sein. Für
diese Unterschiede gab es nur eine Erklärung. Passat war auf einen Ahnen gestoßen.
    Als sein Tiefenselbst zu diesem
Schluss kam, schob es für eine Weile Passats Gleiter-Persönlichkeit beiseite
und übernahm die Kontrolle. Seit der Verschmelzung von Kieme und

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