Die fünfte Kirche
cool. Genau das hatte er sich von Anfang an vorgestellt: Die Kirche war wieder im Besitz von Heiden, inmitten einer prähistorischen rituellen Landschaft.
Das Idyll.
Aber das war nicht mehr das, was Betty wollte – wenn es das je gewesen war.
«Lass mich machen, ja?», sagte George. «Und sei gesegnet, Mann.»
«Ich scheine übersinnliche Kräfte zu haben.» Juliet Pottinger hatte einen vornehmen schottischen Akzent. «Ich wollte gerade in die Stadt gehen, aber dann dachte ich: Nein, wenn ich jetzt gehe, verpasse ich was Interessantes.»
Eine bessere Eröffnung hätte Betty sich kaum wünschen können.
Lower Lodge war ein langgestrecktes georgianisches Cottage am Ende einer kleinen Straße, ungefähr drei Kilometer von Leominsterentfernt und gut vierzig Kilometer östlich von Old Hindwell. Als Betty Old Hindwell hinter sich gelassen hatte, schien ihr Kopf klarer zu werden. Der Tag war grau, aber trocken und angemessen kalt für Januar. Hier draußen fühlte sie sich leichter, weniger beklommen, weniger unfrei.
Mrs. Pottingers Haus war voller Bücher. In der Halle standen sechs Regale, daneben zwei Bücherstapel, die von einem Schirmständer gestützt wurden. In der Küche, wo sie Betty einen Tee machte, lagen Bücher neben Pfannen im Regal und zwischen Tassen und Tellern auf der Anrichte. Der einzig sichtbare Herd war eine Mikrowelle, und ein alter Computer mit riesigem Drucker nahm den halben Küchentisch ein. Gott sei Dank weit und breit kein Zeichen von der
Daily Mail
.
Juliet Pottinger war ungefähr fünfundsechzig Jahre alt, ihr üppiger Körper steckte in mehreren Strickjacken, und ihre Haare konnte man eigentlich nur ‹ausladend› nennen. Sie saß auf einem Schreibtischstuhl, der quietschte, wenn sie sich bewegte. Sie sagte, sie arbeite an einer zusammenfassenden Geschichte der Grenzregion.
«Tut mir leid, dass ich nicht vorher angerufen habe», sagte Betty. «Ich war … zufällig gerade in der Gegend.»
«Sie leben in Old Hindwell?»
«Neben St. Michael.»
«Oh», sagte Mrs. Pottinger. «Oh …»
Betty musste nicht lange erklären, warum sie sich für die Kirche interessierte, und zudem weder ihre Religion erwähnen noch den Schmerz, den die Ruine für sie ausstrahlte.
«Also hat die Witwe verkauft?», sagte Mrs. Pottinger. «Dachte ich mir. Hab in der
Hereford Times
von Major Wilshire gelesen. Er hatte mir geschrieben – aber das wissen Sie natürlich.»
«Mrs. Wilshire hat mir ein paar Dokumente überlassen, die das Haus und die Kirche betreffen, darunter war auch Ihr Brief. So haben wir von Mr. Penney erfahren.»
«Ach, ja – da habe ich wirklich versagt, Mrs. Thorogood, das ist mir heute noch peinlich. Ich wollte in dem Artikel die vollständige Geschichte bringen, aber der
Brecon and Radnor
hätte sie sicher nicht abgedruckt, aus rechtlichen Gründen. Außerdem komme ich immer vom Hölzchen aufs Stöckchen und stürze mich auf jedes Detail – ich war schon immer mehr Historikerin als Journalistin. Und die Einheimischen waren natürlich sowieso dagegen, dass
irgendetwas
herauskommt.»
«Was glauben Sie eigentlich, warum?»
«Vermutlich haben sie sich Sorgen gemacht, dass sie schlecht dabei wegkommen. Damals war ja Gareth Prosser der ältere Landrat, und der hat die innerfamiliäre Regierungstradition aufrechterhalten, nach der es die Gemeinde mit allen Mitteln zu schützen und so wenig wie möglich öffentlich im Landrat zu verhandeln galt. Ich war als Berichterstatterin angehalten, nichts zu schreiben, was nicht ohnehin schon jeder wusste. Abgesehen natürlich von dem armen Terry, da war ich angehalten,
nicht
zu berichten, was ohnehin schon jeder wusste. Ach je, ich fürchte, das war wirklich ein Unglücksort.»
«Haben Sie das so empfunden?»
«Das habe ich immer gewusst. Aber ich will Sie nicht damit belasten. Sie müssen ja trotzdem …»
«Dort leben? Deshalb muss ich ja die wahre Geschichte kennen. Sonst belastet sie mich wirklich.»
«Ja?» Mrs. Pottingers Augen blickten plötzlich wie die eines scharfsinnigen Vogels.
«Ja, es … ich …» Bettys Herz klopfte, es war zu spät für Ausflüchte. «Ich bin … das nennt sich wohl empfindsam. Ich bin empfindsam für Stimmungen, sehr empfindsam.»
«Wirklich?»
«Als ich die Ruine zum ersten Mal sah, habe ich sehr negativ reagiert. Ich habe das für mich behalten, weil mein Mann die Kircheso geliebt hat … er war völlig hingerissen. Ich habe mir dann eine Zeit lang
Weitere Kostenlose Bücher