Die fünfte Kirche
das. Er hat die Pfleger weggeschickt. Hat gefragt, ob er einen Moment mit ihr allein sein könnte, sich verabschieden.»
«Wie lange?»
«Eine ganze Stunde. Um es kurz zu machen, sie haben mich dann schließlich gerufen, damit ich den Mann mit der Diplomatie bearbeite, für die ich berühmt bin. Als ich runtergekommen bin, war ich erleichtert, weil er gerade aufbrechen wollte. Er hatte seinen Mantel an und seinen Hut auf, sah aus, als wäre er auf dem Weg ins Gericht. Ich bin nicht auf ihn zugegangen, wollte ihm aber folgen, um sicher zu sein, dass er auch wirklich geht. Und das hab ich dann auch gemacht. Ich bin ihm gefolgt.»
Merrily hörte jemanden im Hintergrund etwas rufen, und Cullen sagte: «Noch zwei Minuten, Josie, o. k.?»
«Hör jetzt ja nicht auf zu erzählen», sagte Merrily.
«Normalerweise würdest du das noch nicht mal mit Daumenschrauben aus mir rauskriegen. Na gut. Weal ist durch einen der Hinterausgänge gegangen, dort, wo der Parkplatz für die Ärzte ist. Von da aus kommt man über den Hof zum Besucherparkplatz, das ist der schnellste Weg, wenn es einem nichts ausmacht, dass er nicht beleuchtet ist. Und bei Gott, ich wünschte, es wäre heller gewesen, dann könnte ich sagen, es war ein Lichtreflex.»
Ein Schauder überlief Merrily. Sie drehte die Heizung im Auto höher, damit es wärmer wurde.
«Ich könnte natürlich immer noch sagen, es war einer», sagte Cullen trotzig. «Ich kann sagen, was ich will, schließlich bin ich Atheistin. Ich glaube nicht an Gott, ich glaube auch nicht an den Teufel oder an Engel.»
«Und du glaubst nicht, was du gesehen hast. Das sagen viele Leute, das ist o. k.»
«Seien Sie ruhig herablassend, Frau Pfarrer. Ich wache seitdem ungefähr sieben Mal pro Nacht auf. Ich träume davon. Es ist wie ein Computervirus. Als würde man einfrieren.»
«Ich weiß.»
«Ja,
du
weißt ja alles.»
«Tut mir leid.»
«Ich habe an der Tür gestanden und gesehen, wie er zum Besucherparkplatz rübergegangen ist, der völlig leer war. Da war keiner außer ihm und diesem … oh Gott.»
Merrilys Blick schweifte mal hierhin, mal dorthin, entschlossen zählte sie neun Kerzen in neun Fenstern und verbannte jeden Gedanken an den alten Pfarrhausgarten, während Cullen sie warten ließ.
Bis sie endlich, über Schritte auf dem Krankenhausflur und das Schreien einer Frau hinweg, flüsterte: «Es schwebte, weißt du? Wie ein Licht. Kein helles Licht, eher grau, halb da und halbnicht da. Besser kann ich es dir nicht beschreiben. Man konnte es sehen und doch wieder nicht. Aber ich wusste es … ich
wusste
es einfach. Mir ist sehr kalt geworden, Merrily.
Sehr
kalt, verstehst du?»
«Hmhm.»
«Und er … Er wusste, dass es da war. Ich schwöre bei Gott, dass er es wusste. Er hat zwei Mal über seine Schulter geschaut. Ich … ach, zur Hölle, ich kann nicht glauben, dass ich das alles ausspreche. Mir ist davon eiskalt geworden, weißt du?»
«Ja, ich weiß», sagte Merrily.
37
Nachthexe
Gomer unterhielt sich mit Greg Starkey an der Bar, während die anderen Gäste sich ihre Drinks holten. Greg sah Merrily aus blutunterlaufenen Augen an und versuchte erfolglos, seine Stimme zu dämpfen.
«Ich bewege mich wie auf rohen Eiern, versuche die Kneipe am Laufen zu halten, und sie sitzt bloß im Schlafzimmer auf der Bettkante und starrt ins Leere. Wenn ich sie berühre, zuckt sie zusammen, als hätte ich sie geschlagen, als hätte sie keine Haut. Ist es das, was er bewirkt? Ein Segen?»
Ein
Segen
? «Was hat sie Ihnen denn darüber erzählt?», fragte Merrily.
«Nicht viel. Auf ‹Gelobt sei der Herr› und so war ich ja vorbereitet. Das wäre jedenfalls besser gewesen, als hier rumzuhängen wie ’ne misshandelte Ehefrau. Wofür hält sich dieses Schwein eigentlich?»
«Er hält sich für den heiligen Michael», sagte Merrily nüchtern. «Greg, glauben Sie, dass sie mit
mir
sprechen würde?»
«Ich habe Gomer gerade gesagt, ich werd’s ihr vorschlagen. Sobald ich ’ne freie Minute hab, aber das ist vermutlich erst, wenn ich zumache. Wie lange haben Sie Zeit?»
«So lange wie nötig.»
«Ich tu, was ich kann. Ja, sofort, Sir … Carlsberg, ja?»
Merrily winkte Gomer zurück zu dem zugigen Sitzplatz an der Tür, den niemand anders wollte. Sie erzählte ihm von den Gründen, aus denen J. W. Weal Menna womöglich hatte ‹reinigen› lassen wollen.
«Und Sie glauben, Barbara Thomas wusste das?», fragte Gomer.
«Das mit der Taufe? Das ist doch gut
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