Die fünfte Kirche
rumzulaufen – und darüber nachzudenken, was ich hier heute sagen würde.»
Es mussten siebzig oder achtzig Leute in der Kirche sein, und sie kannte höchstens die Hälfte von ihnen. Neben Minnies Verwandten aus den Midlands waren einige Männer da, die aussahen, als wären sie Bauern; wahrscheinlich kannten sie Gomer noch aus der Zeit, in der er an der walisischen Grenze Abflussgräben ausgehoben hatte.
«Wollnse wissen, warum diese Kerle hergekommen sind?»
, hatte er Merrily ins Ohr gezischt.
«Dann achtense mal drauf, wie die sich nachher die Teller mit Kuchen vollhaun.»
Sie sah zu Gomer hinüber, der verloren in der ersten Bank saß, seine Brillengläser beschlagen, seine wilden weißen Haare glatt nach hinten frisiert. Neben ihm saß Jane, die in ihrem dunkelblauen Kostüm erstaunlich formell und ernst aussah. Jane hatte sich heute von der Schule beurlauben lassen und geholfen,den Tee vorzubereiten, den es nachher im Gemeindesaal geben würde.
«Es war sehr kalt», sagte Merrily. «Es schien noch niemand anders auf zu sein, keine Lichter, keine rauchenden Schornsteine. Ich dachte, es stimmt, was man so sagt: Kurz vor der Morgendämmerung ist es am dunkelsten. Aber dann … als ich am Friedhofstor vorbeikam … sah ich ein kleines Licht auf dem Friedhof.»
Sie war vorsichtig darauf zugegangen, hatte angestrengt gehorcht – und sich unweigerlich an die Worte Huw Owens erinnert, der ihr Lehrer in dem Kurs für spirituelle Grenzfragen gewesen war.
«Sie werden Sie nach Hause verfolgen, sie werden nachts in Ihr Telefon atmen, in Ihre Sakristei einbrechen, sich in die hintersten Bänke setzen und während Ihrer Predigt masturbieren … Kleine Ratten im Dunkeln.»
Das Licht leuchtete sanft im Nebel, es kam von da, wo der Friedhof an den Apfelgarten grenzte. Dort ganz in der Nähe hatte Merrily geplant, ein kleines Denkmal für Wil Williams zu errichten, der im siebzehnten Jahrhundert Pfarrer in dieser Gemeinde gewesen war und eine Zeit lang im Pfarrhaus herumgespukt hatte.
Direkt über dem offenen Grab, das Minnie Parry erwartete, schien das gelbe Licht. Merrily war etwa fünf Meter entfernt stehen geblieben und hatte beobachtet, wie das Licht heller wurde.
Und dann sah sie noch ein Licht, einen kleinen roten Schimmer wie von einem Glühwürmchen – und sie lachte fast vor Erleichterung, als Gomer Parry mit brennender Zigarette zwischen den Lippen von unten herauflangte und seine Sturmlampe mit einem Scheppern auf dem Rand des Grabes absetzte.
«Zur Hölle», Gomer hievte sich nach oben, «ich hab Sie doch nicht gestört oder so, Frau Pfarrer? Dachte nich, dass Sie die Funzel vom Pfarrhaus aus sehn könn. Dachte aber auch nich, dass Sie auf sind.»
«Ich hab sie auch nicht vom Pfarrhaus aus gesehen. Ichwar … ich war sowieso wach. Hab einiges zu tun für … Muss den Bischof treffen und so», plapperte sie etwas verlegen.
«Ah», sagte Gomer.
Merrily war entschlossen, nicht zu fragen, was er da unten machte; wenn er es im Schutz der Dunkelheit tat, ging es niemanden etwas an. Außerdem hatte er die volle Verantwortung für Minnies Ruhestätte übernommen und war mit seinem Minibagger angekommen, um gegen den gefrorenen Boden zu kämpfen und sich persönlich um die Auskleidung zu kümmern.
«Lust auf eine Tasse Tee, Gomer?»
Gomer kam mit seiner Lampe zu ihr.
«Das gibt’s doch nich, Frau Pfarrer. Treffen mitten in der Nacht ’nen Typ, der sich auf Ihrm Friedhof rumtreibt und bieten ihm ’ne Tasse Tee an?»
«Hör ma, Kumpel», sagte Merrily und imitierte den Slang des Küsters aus der Kirche in Liverpool, in der sie Vikarin gewesen war. «Ich bin eben verdammt nochma ’ne Christin.»
Gomer grinste, ein müdes, weißes Aufblitzen im Lampenlicht.
«Wir sind also zurück zum Pfarrhaus gegangen.» Merrilys Blick war auf den glänzenden Apfel auf Minnies Sarg geheftet. «Und da saßen wir dann am Küchentisch und tranken Tee, um sechs Uhr morgens. Und ausnahmsweise wusste ich mal nicht, was ich sagen sollte.»
Sie hörte vorsichtige Schritte, sah eine stämmige Gestalt, die auf Zehenspitzen den mittleren Gang heraufkam, und erkannte Eirion Lewis in seiner Schuluniform. Er sah sich zögerlich nach beiden Seiten um … er suchte Jane. Er musste ja
extrem
begeistert von dem Mädchen sein, wenn er direkt von der Schule herkam, um ihr bei dem Begräbnis von jemandem zur Seite zu stehen, den er noch nicht mal gekannt hatte.
Es war allerdings auch ein cleverer Schachzug, das
Weitere Kostenlose Bücher