Die fünfte Kirche
Ort eine prähistorische rituelle Stätte gewesen sein musste. Die Überreste eines Palisadenzauns deuteten darauf hin, dass es die größte ihrer Art in Großbritannien war. Im Zentrum all dessen zu leben hätte auf Betty eigentlich genauso aufregend wirken müssen wie auf Robin, der – dank George – inzwischen vollkommen davon überzeugt war, dass ihre Kirche auf einer Stelle stand, die mit absoluter Sicherheit auch einmal Teil dieses heiligen Ensembles gewesen war.
Aber warum war ihre intensivste Erfahrung an diesem Ort dann die Vision von einer gepeinigten Figur im verfallenen Kirchenschiff von St. Michael gewesen, einer ekstatisch betenden Gestalt, die Angst und Verzweiflung ausstrahlte? Sie hatte versucht, die Erinnerung daran zu verdrängen, aber es war ihr nicht gelungen; sie hatte sogar Schweiß und Urin gerochen. Wie heilig war
das
denn?
Drei schmale Straßen liefen in Old Hindwell auf einen gewöhnlichen kleinen Pub zu. Gegenüber war die frühere Schule in ein Gesundheitszentrum umgewandelt worden – vermutlich von diesem berühmten Dr. Coll. Zwischen den alten Fachwerkcottages war einmal viel Platz gewesen, bevor lauter reizlose Bungalows dazwischengebaut worden waren. In den meisten wohnten Bauern, die sich zur Ruhe gesetzt hatten, in anderen Leute, die aus der Stadt hergezogen waren und Tausende dafür ausgaben, aus den alten Cottages Schmuckstücke zu machen, die sie niemals hatten sein sollen.
Betty konnte sich aus ihrer Kindheit nicht mehr gut an diese Gegend erinnern und kannte hier noch niemanden. Eigentlich ziemlich blöd, in eine Gegend zu ziehen, in der man absolut niemanden kannte. Aber viele machten das – angezogen von der Natur und dem Zauber der Abgeschiedenheit. Doch Betty war klar, dass Robin und sie es hier nicht lange aushalten würden, wenn sie nicht auf die Leute zugingen. Es würde nicht reichen, nur mit der Landschaft Kontakt aufzunehmen.
Robin hielt immer noch an der Idee fest, an Mariä Lichtmess ein kleines Feuerfest abzuhalten. Die Gäste sollten von außerhalb kommen, aber später könnten auch die Einheimischen dazugebeten werden. Wie bei einem Barbecue: Die Einheimischen betranken sich und stellten fest, dass diese Hexen eigentlich ganz o. k. waren, wenn man sie erst mal näher kennenlernte.
Aber Mariä Lichtmess – Robin zog die keltische Bezeichnung ‹Imbolg› vor – war schon in knapp einer Woche, es wäre Wahnsinn, das jetzt noch in Angriff zu nehmen. Lichter in der alten Kirche, nächtliche Gesänge im Freien? Das würde doch jemand mitkriegen.
Es war zu früh. Viel zu früh.
Oder war das nur ein Vorwand, weil Wicca sie nicht mehr so inspirierte wie Robin? Warum hatte George sie am letzten Wochenende so genervt? Warum waren ihr seine Ansichten alle so unerheblich vorgekommen?
Als sie nach Hause kam, wartete Robin in der kalten Dämmerung unten am Fluss auf sie. Er trug sein Fez-Ding, das ihn allerdings überhaupt nicht vor dem Regen schützte. Er war durchnässt und wirkte verstört.
«Wir sind in leichten Schwierigkeiten», sagte er.
Robin machte es wie die amerikanischen Astronauten: Er hob sich die Untertreibungen für die wirklich schlimmen Gelegenheiten auf.
7
Besessenheit
Sogar im eiskalten Januar war das Innere der Kirche von Ledwardine von einem herbstlichen Leuchten erfüllt. Das lag an den Äpfeln.
Es war ein Dorf voller Apfelgärten, und wenn die Apfelgärten kahl waren, kaufte Merrily in Hereford rote und gelbe Äpfel undverteilte sie überall: auf der Kanzel, unten am Eingang und auf den tiefen Fenstersimsen.
Den größten und ältesten Apfel von allen umschloss die Hand Evas auf dem dramatischsten von Ledwardines bunten Kirchenfenstern. Obwohl sich die Sonne an diesem Nachmittag noch nicht hatte sehen lassen, schien diese alte, unheilvolle Frucht immer wieder aufzuleuchten und auch den einsamen Bramley-Kochapfel zu bescheinen, der dick und rosig auf Minnies Sarg lag.
«Ich möchte Ihnen davon erzählen», sagte Merrily, «wie der heutige Tag für Gomer und mich begann.»
Sie stand nicht auf der Kanzel, sondern vor dem mit geschnitzten blattartigen Gesichtern und Äpfeln verzierten Lettner, und sah die Gemeinde hinter dem glänzenden Mahagonisarg sitzen.
«In der Nacht vor einer Beerdigung schlafe ich oft schlecht, vor allem, wenn es um jemanden geht, den ich so gut kennenlernen durfte wie Minnie. Deshalb war ich heute Morgen schon vor sechs Uhr auf, habe Tee gekocht und bin nach draußen gegangen, um ein bisschen
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