Die fünfte Kirche
Kirche ausgeglichen, nicht unfreundlich, zweifellos altertümlich und auf angenehme Weise geheimnisvoll.
Die Tür war verschlossen.
Betty fragte sich, ob das ein Zeichen dafür war, dass sie diesen Ort nicht betreten sollte. Andererseits wurden heutzutage alle Kirchen abgeschlossen, sogar – oder vor allem – in so abgelegenen Gegenden.
Sie ging über den Friedhof zurück zu dem Bauernhof, um herauszufinden, wo sie einen Schlüssel bekommen könnte. Ein sehr entgegenkommender Mann präsentierte ihr einen Schlüssel von mindestens fünfzehn Zentimeter Länge.
Das Schloss öffnete sich sofort. Sie trat ein und blieb angespannt stehen, mit der offenen Tür im Rücken.
Es war dunkel. Betty war darauf gefasst, möglicherweise negative Schwingungen abwehren zu müssen. Aber da war nichts. Alles war still und friedlich. So anders als die Beklemmung und der Gestank, der durch die Ruinen von Old Hindwell strudelte, sodass sie diese Erinnerung aus ihren Gedanken verbannte, um Cascob damit nicht zu verseuchen.
Die Kirche war winzig und vermutlich seit dem vierzehnten oder fünfzehnten Jahrhundert so gut wie unverändert. Eine Bauernkirche mit einem Taufbecken, aber nicht genügend Platz für eine Hochzeit des niederen Adels.
Auf einem Holztisch lagen Informationstexte, darunter das Faltblatt über den Drachen und ein ähnliches über die Kirche selbst. Eine Sammelbüchse ließ Betty nach einer Münze suchen, um den Gott der Christen zu besänftigen. Für einen Moment stand sie hinter einer der letzten Bänke, ohne ihr dunkles Holz zu berühren, den Blick gesenkt, um den einfachen Altar nicht zu sehen. Eswar nicht
ihr
Altar, er wies in die falsche Richtung, und sie hatte sich von alldem vor acht Jahren abgewandt.
Betty schloss die Augen. Es war ihre Entscheidung gewesen. Sie hatte sich vom Osten abgewandt, um sich nach Norden zu wenden: Ein Hexenaltar stand immer auf der Nordseite. Es gab kein Zurück … oder?
Als sie die Augen wieder öffnete, blickte sie auf die weißgekalkte Nordwand, an der in einem schmalen, schwarzen Rahmen ein Dokument hing.
Betty betrachtete es genauer und hielt den Atem an. Die Luft um sie herum schien zu gerinnen. Sie starrte die Zeichen am unteren Rand des Rahmens an.
Und sah, mit einem äußerst unangenehmen Gefühl von déjàvu:
Ihr wurde fast schlecht, sie zitterte. Nichts hiervon war Zufall.
Oben auf dem Dokument, unter dem Trauerrand des schwarzen Rahmens, stand etwas noch Eindeutigeres:
ABRAKADABRA
ABRAKADABR
ABRAKADAB
ABRAKADA
ABRAKAD
ABRAKA
ABRAK
ABRA
ABR
AB
A
Betty drehte sich schnell von der Wand weg, griff nach einem der Faltblätter über die Kirche und hastete hinaus.
Sie klappte das Faltblatt auf und sah eine Zeichnung der Kirche und darunter eine kleinere Zeichnung des Erzengels Michael mit ausgebreiteten Flügeln und einem Schwert über dem Kopf. Unter der Kirche stand:
«… mit dem Abrakadabra-Zauber, der aus dem siebzehnten Jahrhundert stammt, soll eine junge Frau exorziert worden sein. Der Himmel allein weiß, was sie durchgemacht hat, aber es beleuchtet auf interessante Weise, welche Glaubensüberzeugungen damals in Radnorshire herrschten.»
Betty machte ein paar Chakra-Atemzüge, um sich zu beruhigen, und ging dann zurück zu dem Dokument in der Kirche. Wieder ließ sie die Tür offen, damit ein bisschen Licht in die Kirche fiel.
Was sie gelesen hatte, war laut einer winzigen Fußnote die Abschrift der Originalbeschwörungsformel, die ein Experte des British Museum angefertigt hatte. Das Original war darunter: ein zerfleddertes Stück Papier, dessen hellbraun verblasste Schrift man kaum noch entziffern konnte. Wann oder wo genau es in der Kirche gefunden worden war, ging aus dem Text nicht hervor.
Jedenfalls gab es keine Kaminecke, in der man ein Kästchen hätte verstecken können.
Betty las die Abschrift. Die zwei Zaubersprüche mochten ein Jahrhundert oder mehr auseinanderliegen, aber die Ähnlichkeiten waren offensichtlich.
Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes Amen X X X und im Namen des Herrn Jesus Christus will ich Elizabeth Loyd von aller Hexerei erlösen und von allen bösen Geistern und von allen bösen Männern oder Frauen oder Zauberern oder der Verhärtung des Herzens Amen X X X
Es folgte eine Mischung aus römisch-katholischem Latein –
pater noster, ave Maria
– und kabbalistischen Worten wie «Tetragrammaton», dem Namen Gottes. Weiter unten folgten zwei Reihen planetarischer Zeichen.
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