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Die fünfte Kirche

Die fünfte Kirche

Titel: Die fünfte Kirche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phil Rickman
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Schleier
    Merrily sah den Umriss des Kirchturms von Old Hindwell über den Bäumen, und die boshafte Stimme kreischte in ihrem Kopf.
    «Eine Kirche mit einem Turm und Gräbern und allem, die jetzt eine heidnische Kirche ist. Sie wissen noch nicht mal, was vor Ihrer eigenen Haustür passiert.»
    Wenn diese Heiden schon eine Weile hier waren, würde das erklären, warum Ellis Old Hindwell auserwählt hatte – Extreme ziehen Extreme an. Die einzige andere anglikanische Kirche in der Diözese war Llanwarne, unten bei Ross-on-Wye, und die lag nah am Ortszentrum, direkt an der Straße, und sie war eine Touristenattraktion.
    Aber jetzt ging es nicht darum, ob es sich hier um diesen angeblich neuheidnischen Tempel handelte oder nicht. Jetzt musste sie erst einmal zu dem ehemaligen Pfarrhaus kommen, das weder verlassen war noch eine Ruine   … aber kurz davorstand, sein erstes Grab zu bekommen.
    Wahrscheinlich würde sie irgendwo unterwegs auf Sophies Auto treffen.
    Und Barbara Buckingham?
    Merrily ging schneller, das Einzige, was sie hörte, waren ihre eigenen Schritte. Sie ging ins Zentrum des Ortes, kam an einem kleinen Laden und einer Post vorbei, beide schon geschlossen, und an einem Pub mit Milchglasscheiben, der relativ einladend aussah – aber auch nur verglichen mit dem ganzen Rest hier.
    In einem der Häuser jaulte plötzlich ein Hund. Vielleicht hatte er aus der Ferne die Töne aus der Dorfhalle vernommen.
    Der Parkplatz vor dem Pub war immer noch voll. Die Autos gehörten natürlich Leuten von außerhalb. Die Trauergemeinde bestand größtenteils nicht aus Familie oder Freunden oder Langzeitkunden J.   W.   Weals, sondern aus treuen Mitgliedern von Nicholas Ellis’ Kirche.
    Dieses Singen in Zungen war kein spontanes Phänomen gewesen. Es war Routine, eine Gewohnheit, eine Sucht, ein christlicher Trip. Das hatte sie begriffen, als sie am Theologischen Seminar gewesen war und sich von einer Gruppe von Studenten hatte überreden lassen, zum Großen Bibelfest mitzukommen, das übers Wochenende in einem riesigen Zelt in der Nähe von Warwick stattgefundenhatte. Zwei Tage lang hatte jeder jeden angelächelt und «Gelobt sei der Herr» gesagt, als sei das der neue Schulhof-Spruch, und schon am Abend des ersten Tages hätte Merrily die Nächste, die sie mit «Schwester» ansprach, am liebsten erwürgt.
    Es war Jeremy gewesen, der ihr gesagt hatte, dass die gehässige Zynikerin in ihr nur Angst habe, sich dem Heiligen Geist zu unterwerfen. Er hatte sie aufgefordert, den Abend mit wachen Sinnen zu durchleben, ohne Vorurteile, ohne Widerstände. Gelobt sei der Herr! Und so hatte sie an einem Gottesdienst teilgenommen, in dem alle Lieder schlichte, rhythmische Pop-Hymnen waren, gesungen von glücklichen Leuten in Hawaii-Hemden und Jogginghosen – und das alles endete mit diesem Singen in Zungen.
    Es war eine Gabe Jesu, ursprünglich nur einigen Auserwählten verliehen. Die Bibel sagte nichts darüber, wie diese Zungenrede genau klang, oder über die linguistischen Wurzeln und die grammatische Struktur, aber moderne evangelikale Christen bestanden darauf, dass es eine Möglichkeit war, direkt mit Gott zu reden, der schließlich seinerseits nicht notwendigerweise Englisch sprach.
    Das klang nicht restlos überzeugend, die ersten beiden Lieder hatte sie trotzdem durchgehalten. Aber hatte ihr eigener prägender mystischer Moment nicht schließlich in vollkommener Stille stattgefunden, und war sie in der blau und golden schimmernden winzigen Kirche nicht allein gewesen?
    Und dann –
Gelobt sei Er, gelobt sei Gott!
– hatte sich ihr Mund geöffnet wie der von allen anderen, und sie kamen heraus wie diese hauchdünnen Tücher, die Zauberer irgendwo herausziehen. Fließende, lyrische Worte, die nichts bedeuteten, aber so klangen, als sollten sie etwas bedeuten. Abgefahrene, flüssige Verehrung. Dynamisches, wortloses Gebet. Alle Sinne voneinander losgelöst. Eine überweltliche Erfahrung.
    Sie konnte es immer noch heraufbeschwören, wenn sie wollte, als wäre dieses eine Mal die Initiation fürs ganze Leben gewesen. Es war leicht.
    Womöglich zu leicht.
    Sie fragte sich, in welchem Ausmaß die Einheimischen mitgemacht hatten. Sangen behäbige Bauern jetzt in Zungen? Sagten sie «Gelobt sei Gott», wenn sie sich am Markttag dort trafen, wo die Schafe eingesperrt waren, und nicht mehr «Wie geht’s?»?
    Das war nicht auszuschließen. Schließlich waren in Wales massenweise traditionelle Kirchen aufgegeben worden, damit

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