Die Furcht des Weisen / Band 1
früher ihre ranghöchsten Mitglieder geschmückt hatten.
Ich war so erstaunt über diese Bemerkung, dass ich das Allererste vergaß, was ich über Auri gelernt hatte. Ich ließ alle Vorsicht außer Acht und stellte ihr eine Frage. »Auri, woher weißt du denn von den Ciridae?«
Ich bekam keine Antwort. Beim nächsten Blitz sah ich nur noch ein leeres Dach und einen erbarmungslosen Himmel.
|283| Kapitel 24
Klimpern
S o stand ich also auf dem Dach, über mir tobte das Gewitter, und das Herz wurde mir schwer. Ich wollte Auri nachlaufen und mich entschuldigen, aber ich wusste, es war aussichtslos. Wenn man ihr eine falsche Frage stellte, lief sie weg, und wenn Auri erst mal weglief, verschwand sie wie ein Kaninchen in seinem Bau. Im Unterding gab es für sie unzählige Verstecke. Dort hätte ich sie niemals gefunden.
Außerdem musste ich mich um lebenswichtige Angelegenheiten kümmern. Es hätte längst jemand unterwegs sein können, der mithilfe einer Wünschelrute meinen Aufenthaltsort herausfand. Ich hatte schlicht und einfach keine Zeit.
Fast eine Stunde brauchte ich für den Weg über die Dächer. Die Blitze machten es mir eher schwerer als leichter, denn nach jedem Blitz war ich eine Weile geblendet. Dennoch schaffte ich es schließlich humpelnd auf den Dachabschnitt des Hauptgebäudes, auf dem ich mich normalerweise mit Auri traf.
Mit steifen Gliedern stieg ich den Apfelbaum hinab in den vollkommen abgeschlossenen Hof. Ich wollte eben durch das schwere Entwässerungsgitter ins Unterding hinab rufen, als ich im Schatten der nahen Sträucher eine Bewegung wahrnahm.
Ich spähte in die Dunkelheit, konnte nur schemenhafte Umrisse erkennen. »Auri?«, fragte ich vorsichtig.
»Ich mag nicht erzählen«, sagte sie leise und mit tränenerstickter Stimme. Von all den schrecklichen Dingen, die ich in den letzten Tagen erlebt hatte, war dies fraglos das schrecklichste.
»Es tut mir sehr leid, Auri«, sagte ich. »Ich werde dich nie wieder fragen. Das verspreche ich dir.«
|284| Aus der Dunkelheit erklang ein leises Schluchzen, das mir bis ins Herz drang.
»Was wolltest du denn heute Nacht da oben?«, fragte ich. Ich wusste, dass es eine ungefährliche Frage war, denn ich hatte sie ihr schon oft gestellt.
»Ich habe mir die Blitze angesehen«, sagte sie schniefend. »Einer sah aus wie ein Baum.«
»Was war denn in den Blitzen?«, fragte ich leise.
»Ionisation«, sagte sie. Und nach kurzer Pause fügte sie hinzu: »Und Flusseis. Und eine Bewegung, die ein Katzenschwanz macht.«
»Ich wünschte, das hätte ich gesehen«, sagte ich.
»Und was wolltest du da oben?«, fragte sie und lachte leise. Es klang ein wenig wie ein Schluckauf. »Ganz wild und fast nackt …«
Da begann mein Herz ein wenig freier zu schlagen. »Ich habe nach etwas gesucht, wo ich mein Blut hinterlassen könnte«, sagte ich.
»Die meisten Leute behalten das bei sich«, erwiderte sie. »Das ist einfacher.«
»Den Rest will ich ja auch bei mir behalten«, erklärte ich. »Aber ich fürchte, dass eventuell jemand nach mir sucht.«
»Ach so«, sagte sie, als verstünde sie das alles nun vollkommen. Ich sah, wie ihre dunkle Gestalt sich in der Dunkelheit erhob. »Dann solltest du mit mir nach Klimpern kommen.«
»Ich glaube, Klimpern habe ich noch nicht gesehen«, sagte ich. »Hast du mich dahin schon mal mitgenommen?« Ich sah eine Bewegung, die ein Kopfschütteln gewesen sein könnte. »Das ist privat.«
Ich hörte ein metallisches Geräusch und ein Rascheln, und dann leuchtete aus dem nun offen stehenden Entwässerungsschacht ein blau-grünes Licht empor. Ich stieg hinab, und Auri empfing mich im Gang darunter.
Das Licht aus ihrer Hand zeigte Schmierflecken auf ihrem Gesicht, wahrscheinlich davon, dass sie sich Tränen weggewischt hatte. Es war das erste Mal, dass ich Auri schmutzig sah. Ihre Augen waren dunkler als sonst, und ihre Nase war gerötet.
Sie schniefte und rieb sich das fleckige Gesicht. »Du siehst wirklich schlimm aus«, sagte sie in ernstem Ton.
|285| Ich sah auf meine blutbefleckten Hände und meine Brust hinab. »Ja, stimmt«, sagte ich.
Dann schenkte sie mir ein tapferes Lächeln. »Ich bin diesmal nicht so weit weggelaufen«, sagte sie und reckte stolz das Kinn vor.
»Ich bin froh darüber«, sagte ich. »Und es tut mir leid.«
»Nein«, sagte sie und schüttelte entschlossen den Kopf. »Du bist mein Ciridae, und du bist daher über jeden Tadel erhaben.« Sie berührte mit einem Finger meine blutbefleckte Brust
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