Die Furcht des Weisen / Band 1
Probelauf. Ich wollte mir nicht schon wieder dein mädchenhaftes Kreischen anhören müssen.« Sie erhob sich. »Jetzt geht’s richtig los.« Sie richtete die Nadel auf die Puppe und sah mich an. »Bist du bereit?«
Ich nickte. Sie schloss einen Moment lang die Augen, murmelte |355| eine Bindung und rammte die heiße Nadel dann mit voller Wucht durch das Bein der Puppe. Das Gram innen an meinem Arm fühlte sich schlagartig kalt an, und ich spürte einen leichten Druck in der Wade, als hätte mich jemand an der Stelle gestupst. Ich sah hinab, um sicher zu gehen, dass Simmon sich nicht etwa rächte, indem er mit einem Stock nach mir stieß.
Da ich nicht hinsah, bekam ich nicht mit, was Mola als Nächstes tat, aber ich spürte drei weitere stumpfe Knüffe, an beiden Armen und am Oberschenkel. Das Gram wurde immer kälter.
Dann hörte ich Fela erschrocken nach Luft schnappen und hob gerade noch rechtzeitig den Blick, um zu sehen, wie Mola die Wachspuppe mitten ins Feuer warf und dabei eine weitere Bindung murmelte.
Simmon schrie, und Wilem war aufgesprungen und hätte sich fast auf Mola gestürzt, aber er kam zu spät, um sie noch aufzuhalten.
Die Puppe landete mitten in der Glut, und Funken stoben auf. Mein Gram wurde fast schmerzhaft kalt, und ich lachte wie verrückt. Alle starrten mich an, entsetzt oder ungläubig oder beides.
»Alles in Ordnung«, sagte ich. »Aber das ist echt ein seltsames Gefühl. Als stünde man in einem kräftigen, warmen Wind.«
Das Gram wurde nun eiskalt, und dann verging das seltsame Gefühl ganz langsam, während die Puppe schmolz und die sympathetische Verbindung sich zusehends auflöste. Schließlich begann das Wachs zu brennen, und die Flammen des Lagerfeuers loderten ein wenig höher empor.
»Hat es wehgetan?«, fragte Simmon.
»Kein bisschen«, sagte ich.
»Und das war alles, was ich aufbieten konnte«, sagte Mola. »Um mehr auszurichten, hätte ich ein richtiges Schmiedefeuer gebraucht.«
»Und dabei ist sie eine El’the«, fügte Simmon hinzu. »Ich wette, sie ist eine dreimal so gute Sympathikerin wie Ambrose.«
»Mindestens«, sagte ich. »Aber andererseits: Wenn jemand keine Kosten und Mühen scheuen würde, um sich tatsächlich ein Schmiedefeuer zu beschaffen, dann Ambrose. Man kann so ein Gram überwältigen, wenn man nur genug aufbietet.«
»Wir ziehen das also morgen wie geplant durch?«, fragte Mola.
|356| Ich nickte. »Ja. Die Generalprobe hat ja jetzt gut geklappt.«
Simmon stocherte mit einem Stock im Feuer herum, an der Stelle, an der die Wachspuppe gelandet war. »Wenn es dir gar nichts anhaben kann, obwohl Mola alles aufbietet, was in ihrer Macht steht, könnte das ja auch ausreichen, um dir Devi eine Zeit lang vom Hals zu halten.«
Schweigen. Ich hielt den Atem an und hoffte, Fela und Mola hätten diese Bemerkung mehr oder weniger überhört.
Doch Mola sah mich an und hob eine Augenbraue. »Devi?«
Ich warf Simmon einen bösen Blick zu, und er guckte ganz jämmerlich, wie ein Hund, der weiß, dass er gleich getreten wird. »Ich habe mir bei einem Gaelet namens Devi Geld geliehen«, sagte ich und hoffte, dass sie sich mit dieser Auskunft zufriedengeben würde.
Doch Mola sah mich weiterhin an. »Und?«
Ich seufzte. Normalerweise wäre ich dem Thema ausgewichen, aber Mola neigte nun mal zu einer gewissen Beharrlichkeit, und ich brauchte sie unbedingt für das, was wir am nächsten Tag vorhatten.
»Devi war früher mal Mitglied des Arkanums«, erklärte ich. »Ich habe ihr zu Beginn des Trimesters ein paar Tropfen Blut von mir anvertraut, als Sicherheit für ein Darlehen. Als Ambrose anfing, mich zu attackieren, bin ich zu falschen Schlussfolgerungen gelangt und habe sie irrtümlicherweise des Sympathievergehens bezichtigt. Das hat unserer Beziehung einen ziemlichen Knacks versetzt.«
Mola und Fela wechselten einen Blick. »Du lässt aber auch nichts aus, um dein Leben aufregend zu gestalten, oder?«, sagte Mola.
»Ich habe ja bereits eingeräumt, dass es ein Fehler war«, entgegnete ich gereizt. »Was erwartest du denn noch von mir?«
»Wirst du ihr das Geld denn zurückzahlen können?«, schaltete sich Fela ein, bevor es zwischen Mola und mir zu einem Wortgefecht kommen konnte.
»Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht«, erwiderte ich. »Mit etwas Glück, und wenn ich im Handwerkszentrum ein paar Nachtschichten einlege, könnte ich bis zum Trimesterende eventuell genug Geld zusammenbekommen.«
Die ganze Wahrheit verschwieg ich. Ich konnte zwar
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