Die Furcht des Weisen / Band 1
Leute, die sich so etwas leisten konnten.
Die Auslosung der Termine fand stets auf dem größten Innenhof der Universität statt. Im allgemeinen Sprachgebrauch hieß er »der Fahnenplatz«, und nur einige wenige Leute, deren Gedächtnis weit genug zurückreichte, nannten ihn »das Fragenhaus«. Ich kannte einen sogar noch älteren Namen dafür: »Das Haus des Windes«.
Ich schaute ein paar Blättern dabei zu, wie sie übers Kopfsteinpflaster trudelten, und als ich den Blick wieder hob, sah ich Fela, die von ihrem Platz in der Schlange aus, dreißig oder vierzig Personen |45| weiter vorn, zu mir herüber blickte. Sie lächelte und winkte mir zu. Ich winkte zurück, und sie ließ ihren Platz im Stich und kam zu mir.
Fela war schön. So schön wie eine Frau auf einem Gemälde. Nicht die künstliche Art von Schönheit, die man bei adligen Damen oft sieht, nein: Fela war ganz natürlich und unbefangen, hatte große Augen und einen vollen Mund, der stets zu lächeln schien. Hier an der Universität, wo es zehnmal mehr Männer als Frauen gab, stach sie hervor wie ein Pferd inmitten einer Schafherde.
»Darf ich mich zu dir gesellen?«, fragte sie und stellte sich neben mich. »Ich mag’s nämlich nicht, wenn ich niemanden zum Reden habe.« Sie lächelte den beiden Männern zu, die in der Schlange hinter mir standen. »Ich drängle mich nicht rein«, erklärte sie. »Ich war schon viel weiter vorn.«
Die beiden hatten nichts dagegen, aber ihre Blicke huschten zwischen Fela und mir hin und her. Ich konnte sie förmlich grübeln hören, weshalb eine der schönsten Frauen der Universität ihren Platz in der Schlange aufgab, um ausgerechnet neben mir zu stehen.
Das war eine gute Frage. Ich war da selber neugierig.
Ich trat beiseite, um ihr Platz zu machen. Dann standen wir einen Moment lang Schulter an Schulter, und keiner sagte etwas.
»Was belegst du denn dieses Trimester?«, fragte ich schließlich.
Fela strich sich das Haar nach hinten. »Ich werde wohl weiter in der Bibliothek arbeiten. Dazu Chemie. Und Brandeur hat mich eingeladen, bei ihm Mannigfaltigkeitsrechnung zu studieren.«
Mich schauderte ein wenig. »Das sind mir zu viele Zahlen. Da verliere ich den Boden unter den Füßen.«
Fela reagierte mit einem Achselzucken, und die langen, lockigen Strähnen ihres dunklen Haars, die sie gerade nach hinten gestrichen hatte, nutzten die Gelegenheit, wieder nach vorn zu fallen und ihr Gesicht zu umrahmen. »Es ist gar nicht so schwierig, wenn man mal die Grundlagen kapiert hat. Es hat sogar etwas von einem Spiel.« Sie sah mich an. »Und du?«
»Mediho«, sagte ich. »Dazu Arbeit und Studium im Handwerkszentrum. Und Sympathie, falls Dal mich nimmt. Außerdem sollte ich meine Siaru-Kenntnisse auffrischen.«
»Du sprichst Siaru?«, fragte sie, und es klang erstaunt.
|46| »Ich kann mich verständigen«, antwortete ich. »Aber Wil meint, meine Grammatikkenntnisse wären erbärmlich.«
Fela nickte und sah mich dann von der Seite an, wobei sie sich auf die Unterlippe biss. »Elodin hat mich auch eingeladen, an seinem Seminar teilzunehmen«, sagte sie voller Beklommenheit. »Aber ich weiß nicht, was ich von dieser Einladung halten soll.«
»Elodin gibt ein Seminar?«, fragte ich. »Ich wusste gar nicht, dass sie ihn überhaupt unterrichten lassen.«
»Er fängt dieses Trimester damit an«, sagte sie und sah mich neugierig an. »Ich dachte, du wärst auch dabei. War er nicht dein Bürge bei deiner Beförderung zum Re’lar?«
»Ja, war er«, sagte ich.
»Oh.« Sie blickte unbehaglich und fügte schnell hinzu: »Er hat dich wahrscheinlich nur noch nicht gefragt. Oder er hat vor, dich einzeln zu unterrichten.«
Ich winkte ab, obwohl es mir gegen den Strich ging, dass ich da offenbar außen vor gelassen wurde. »Wer weiß das schon bei Elodin?«, sagte ich. »Wenn der nicht verrückt ist, ist er der beste Schauspieler, dem ich je begegnet bin.«
Fela wollte noch etwas sagen, blickte sich aber nervös um und beugte sich zu mir herüber. Ihre Schulter berührte meine, und ihr lockiges Haar kitzelte mich am Ohr, als sie leise fragte: »Hat er dich wirklich vom Dach des Refugiums gestoßen?«
Ich lachte verlegen. »Das ist eine verzwickte Geschichte«, sagte ich und wechselte recht unbeholfen das Thema. »Wie ist denn der Titel des Seminars?«
Sie rieb sich die Stirn und lachte schnaubend auf. »Keine Ahnung. Er hat gesagt, der Titel des Seminars sei der Titel des Seminars.« Sie sah mich an. »Was hat das zu
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