Die Furcht des Weisen / Band 1
»Und ihr habt eure Studien mit unterschiedlicher Hingabe betrieben – und mit unterschiedlichem Erfolg.«
Ich kämpfte gegen den Drang an, betreten den Blick abzuwenden, denn mir war bewusst, dass meine Anstrengungen bestenfalls halbherzig gewesen waren.
»Doch was euch nicht gelungen ist, hat Fela vollbracht«, sagte Elodin. »Sie hat den Namen des Steins gefunden …« Er sah zu ihr hinüber. »Wie oft?«
»Acht Mal«, erwiderte sie, den Blick zu Boden gewandt, und rang nervös die Hände.
Ehrfurchtsvolles Gemurmel. Das hatte sie uns gegenüber bei all unserem Gemecker nie erwähnt.
Elodin nickte, als billigte er unsere Reaktion. »Als Namenskunde noch unterrichtet wurde, trugen wir Namenskundler unser Können mit Stolz. Ein Student, der die Herrschaft über einen Namen erlangt hatte, trug einen Ring, als Zeichen seiner besonderen Fähigkeit.« Elodin streckte vor Fela eine geschlossene Hand aus und öffnete sie. Darin lag ein großer, dunkler Kieselstein. »Das hier wird Fela nun vollbringen, zum Beweis ihrer Fähigkeit.«
Sie sah Elodin erschrocken an. Dann huschte ihr Blick zwischen ihm und dem Stein hin und her, und sie wirkte verzweifelt und wurde blass.
Elodin sah sie mit einem beruhigenden Lächeln an. »Nur zu«, sagte er ganz sanft. »Im Grunde deines Herzens weißt du, dass du das kannst. Und noch viel mehr.«
Fela biss sich auf die Lippen und nahm den Stein in die Hand. Bei ihr sah er größer aus als zuvor bei Elodin. Sie schloss die Augen und atmete langsam tief ein. Dann atmete sie langsam wieder aus, hob den Stein und öffnete die Augen so, dass er das Erste war, was sie nun erblickte.
Fela starrte den Stein an, und einen Moment lang herrschte Stille. Im Raum baute sich eine immense Anspannung auf.
Eine Minute verging. Zwei Minuten. Drei Minuten, entsetzlich lang.
Schließlich seufzte Elodin ungehalten und löste damit die Anspannung |454| auf. »Nein, nein, nein«, sagte er und schnippte neben ihrem Gesicht mit den Fingern, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Dann hielt er ihr mit einer Hand die Augen zu. »Du guckst ihn an. Guck ihn nicht an.
Sieh ihn
!« Er riss die Hand wieder weg.
Fela hob den Stein weiter empor und riss die Augen auf. Daraufhin verpasste ihr Elodin mit der flachen Hand einen Schlag auf den Hinterkopf.
Sie wandte sich zu ihm um und guckte empört. Doch Elodin zeigte nur auf den Stein, den sie immer noch in der Hand hielt. »Sieh!«, sagte er eindringlich.
Felas Blick richtete sich wieder auf den Stein, und sie lächelte, als erblickte sie einen alten Freund. Sie schloss die Hand um den Stein und führte sie an den Mund. Ihre Lippen bewegten sich.
Dann gab es plötzlich einen Knall – als wäre ein Wasserspritzer in einer Pfanne mit heißem Fett gelandet. Und noch Dutzende Male knallte es weiter, und es hörte sich an, als ließe ein alter Mann seine Fingerknöchel knacken, oder als prasselte ein Hagelschauer auf ein Schieferdach.
Fela öffnete schließlich die Hand, und Sand und Kies fielen heraus. Mit zwei Fingern griff sie in die dunklen Steinsplitter auf ihrer Handfläche und zog einen Ring aus schwarzem Stein daraus hervor. Er war vollkommen rund und so glatt, als wäre er aus poliertem Glas.
Elodin lachte triumphierend und schloss Fela begeistert in die Arme. Sie erwiderte die Umarmung ebenso innig. So gingen sie zusammen ein paar Schritte, und halb war es ein Taumel, halb ein Tanz.
Immer noch lächelnd, streckte Elodin eine Hand aus. Fela legte den Ring hinein, und er betrachtete ihn von allen Seiten und nickte schließlich.
»Fela«, sagte er in ernstem Ton. »Hiermit erhebe ich dich in den Rang eines Re’lar.« Er hielt den Ring empor. »Deine Hand, bitte.«
Beinahe schüchtern hielt Fela ihm ihre Hand entgegen. Doch Elodin schüttelte den Kopf. »Die linke«, sagte er. »Die rechte würde etwas ganz anderes bedeuten. So weit seid ihr alle noch lange nicht.«
Fela hielt ihm die andere Hand hin, und Elodin steckte ihr den |455| Ring an einen Finger. Wir anderen applaudierten stürmisch und eilten zu ihr, um uns anzusehen, was sie da vollbracht hatte.
Fela strahlte und hielt den Ring so, dass alle ihn sehen konnten. Er war nicht glatt, wie ich zunächst angenommen hatte. Vielmehr war er mit tausenden winzigen, flachen Facetten überzogen. Sie waren in feinsten, wirbelnden Mustern arrangiert, und so etwas hatte ich noch nie gesehen.
|456| Kapitel 44
Der Fänger
T rotz des Ärgers mit Ambrose, meiner Obsession mit der Bibliothek und meiner
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