Die Furcht des Weisen / Band 1
gewisse Anspannung im Raum. Ein Fremder hätte das niemals bemerkt, aber es war zweifellos vorhanden, wie eine dunkle, lautlose Unterströmung. Keiner sprach über die Steuern oder das Militär oder darüber, dass man neuerdings nachts die Türen abschloss. Keiner sprach darüber, was am Vorabend im Wirtshaus geschehen war. Keiner schaute nach der gründlich geschrubbten Stelle auf dem Dielenboden, an der von Blut nichts mehr zu sehen war.
Stattdessen erzählte man sich Witze und Anekdoten. Eine frisch vermählte junge Frau küsste ihren Gatten, was im Saal Gejohle und Pfiffe auslöste. Der alte Benton versuchte mit seinem Stock den Rocksaum der Witwe Creel anzuheben und lachte meckernd, als sie ihm eine Ohrfeige verpasste. Zwei kleine Mädchen jagten einander um die Tische herum, sie kreischten und lachten, während die anderen zusahen und liebevoll lächelten. Es half ein wenig. Und das war alles, was man tun konnte.
|478| Die Wirtshaustür wurde aufgerissen. Der alte Cob, Graham und Jake stapften aus dem Mittagssonnenschein herein.
»Hallo, Kote!«, rief Cob und sah sich unter den Leuten im Schankraum um. »Hier ist ja heute richtig Betrieb!«
»Das Meiste hast du schon verpasst«, sagte Bast. »Wir waren eine Zeit lang richtig am Rotieren.«
»Ist denn für uns Nachzügler noch was übrig?«, fragte Graham und nahm auf einem Hocker am Tresen Platz.
Bevor Bast antworten konnte, stellte ein breitschultriger Mann einen leeren Teller auf dem Tresen ab und legte eine Gabel daneben. »Das«, sagte er mit dröhnender Stimme, »war ein verdammt guter Kuchen.«
Neben ihm stand eine dünne Frau mit einem verkniffenen Gesicht. »Du sollst doch nicht fluchen, Elias«, sagte sie in scharfem Ton. »Das ziemt sich nicht.«
»Ach, Schatz«, erwiderte der kräftige Mann. »Reg dich nicht auf. Du hast mich falsch verstanden. Dammtgut ist doch eine Apfelsorte, nicht wahr?« Er sah sich grinsend unter den Männern am Tresen um. »Eine Sorte aus dem fernen Atur. Benannt nach Baron Dammtgut, wenn ich mich nicht irre.«
Graham erwiderte sein Grinsen. »Ja, ich glaube, davon habe ich schon gehört.«
Die Frau funkelte beide an.
»Diese Äpfel habe ich von den Bentons«, sagte der Wirt.
»Ach so«, sagte der hünenhafte Landmann mit einem Lächeln. »Dann habe ich mich wohl getäuscht.« Er nahm einen Krümel von dem Teller und kaute nachdenklich darauf herum. »Ich hätte schwören können, dass das in dem Kuchen Dammtgut-Äpfel waren. Na, vielleicht bauen die Bentons Dammtgut-Äpfel an und wissen gar nichts davon.«
Seine Frau schnaubte, sah dann, dass der Chronist untätig an seinem Tisch saß, und zog ihren Gatten fort.
Der alte Cob sah ihnen nach und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was diese Frau in ihrem Leben bräuchte, damit sie mal ein bisschen glücklicher wäre«, sagte er. »Aber ich hoffe, sie findet es, bevor sie dem armen Elias den letzten Nerv raubt.«
|479| Jake und Graham grummelten zustimmend.
»Es ist doch schön zu sehen, dass hier mal richtig was los ist«, sagte Cob und sah zu dem rothaarigen Mann hinter dem Tresen hinüber. »Du bist ein guter Koch, Kote. Und du hast das beste Bier im Umkreis von zwanzig Meilen. Da fehlt nur noch eine Kleinigkeit, und der Laden wäre immer gerammelt voll.«
Er tippte sich wissend an den Nasenflügel. »Weißt du was?«, sagte er zu dem Wirt. »Du solltest für abends einen Sänger oder so engagieren. Ja, und der kleine Orrison könnte ein bisschen was auf der Fiedel von seinem Vater vorspielen. Der würde das bestimmt gerne machen, wenn er dafür ein paar Gläser spendiert kriegt.« Er sah sich im Schankraum um. »Ein bisschen Musik ist genau das, was hier fehlt.«
Der Wirt nickte. Sein Gesichtsausdruck war so unbefangen und freundlich, dass es fast gar kein Gesichtsausdruck war. »Ich nehme an, du hast recht«, sagte Kote. Seine Stimme war vollkommen ruhig. Er sprach in einem vollkommen normalen Tonfall, so farblos und klar wie Fensterglas.
Der alte Cob machte schon den Mund auf, doch bevor er etwas sagen konnte, pochte Bast energisch auf den Tresen. »Was zu trinken?«, fragte er die Runde. »Ihr wollt doch bestimmt was, bevor wir euch das Essen bringen.«
Dem war tatsächlich so, und Bast eilte geschäftig hinter dem Tresen hin und her, zapfte Bier und drückte die Krüge in wartende Hände. Nachdem er noch einen Moment lang verharrt hatte, setzte sich auch der Wirt wieder in Bewegung und ging in die Küche, um die Suppe zu holen. Dazu Butterbrote
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