Die Furcht des Weisen / Band 1
täglich Brot zusammenbetteln. Ich stahl einem Mann die Schuhe und trug Gedichte vor. Letzteres zeigt mehr als alles andere, wie wahrhaft verzweifelt meine Lage war.
Doch haben diese Abenteuer wenig mit meiner eigentlichen Geschichte zu tun, ich übergehe sie deshalb zugunsten wichtigerer Dinge. Ich benötigte insgesamt sechzehn Tage bis nach Severen. Das war zwar etwas länger als geplant, doch habe ich mich zu keinem Zeitpunkt gelangweilt.
|524| Kapitel 53
Die Bastion
Z erlumpt, mittellos und hungrig hinkte ich durch das Stadttor von Severen.
Hunger ist mir nichts Fremdes. Ich kenne das hohle Gefühl im Bauch in all seinen Erscheinungsformen. Diesmal litt ich keinen schlimmen Hunger. Ich hatte am Tag davor noch zwei Äpfel und ein wenig Pökelfleisch gegessen und verspürte deshalb nur ein schmerzhaftes Magenknurren. Ich war noch etwa acht Stunden von jenem schrecklichen Hunger entfernt, der einen vor Entkräftung zittern macht.
In den letzten beiden Spannen hatte ich durch Diebstahl, mutwillige Zerstörung oder Einwirkung natürlicher Ereignisse meine gesamte Habe verloren. Nur meine Laute war mir geblieben. Dennas wunderbarer Kasten hatte sich bereits zehnfach bezahlt gemacht. Er hatte mir bei einer Gelegenheit das Leben gerettet und außerdem meine Laute, Threpes Empfehlungsschreiben und Ninas so wichtige Zeichnung der Chandrian geschützt.
Vielleicht fällt auf, dass ich in der Aufzählung meiner Besitztümer keine Kleider nenne. Das hat zwei gute Gründe. Einmal konnte man die Lumpen, die ich trug, kaum noch als Kleider bezeichnen, wollte man der Wahrheit nicht Gewalt antun. Zweitens hatte ich sie gestohlen und konnte sie deshalb schlecht mein Eigen nennen.
Am meisten schmerzte mich der Verlust von Felas Umhang. Ich hatte ihn in Junpui für einen Verband in Streifen reißen müssen. Fast genauso schwer wog der Verlust meines unter solchen Mühen hergestellten Gram, das jetzt irgendwo auf dem Grund der kalten, dunklen Sundersee lag.
|525| Die Stadt Severen wurde durch eine hoch aufragende, weiße Felswand in zwei ungleiche Teile geteilt. Das städtische Leben spielte sich überwiegend im größeren Teil am Fuß dieser Felswand ab, die den passenden Namen Bastion trug.
Auf der Bastion lag der deutlich kleinere Teil der Stadt mit den Herrenhäusern und Villen reicher Kaufleute und Adliger. Außerdem waren dort die zur Versorgung der Oberschicht nötigen Schneidereien, Mietställe, Theater und Bordelle untergebracht.
Die Felswand hob die Oberstadt dem Himmel entgegen, als sei ihr einziger Daseinszweck, dem Adel eine bessere Aussicht auf das umliegende Land zu bieten. Nach Nordosten und Süden fiel sie allmählich ab, doch an der Stelle, an der sie die Stadt teilte, stieg sie senkrecht wie eine Mauer sechzig Meter in die Höhe.
In der Mitte der Stadt ragte von der Bastion vorspringend eine breite Halbinsel ins Meer. Auf ihr stand die Stammburg Maer Alverons. Die aus hellem Stein erbauten Mauern waren von überall in der darunter gelegenen Stadt zu sehen und schienen den Betrachter geradezu bedrohlich zu mustern.
Auch mich, der ich kein Geld in der Tasche hatte und keine anständigen Kleider trug, schüchterten sie ein. Ursprünglich hatte ich mich trotz meiner Verwahrlosung sofort mit Threpes Schreiben zum Maer begeben wollen, doch als ich jetzt an den hohen Mauern hinaufblickte, wurde mir klar, dass man mich wahrscheinlich gar nicht einlassen würde. Ich sah aus wie ein zerlumpter Bettler.
Mir standen wenige Mittel und noch weniger Alternativen zur Verfügung. Mit Ausnahme von Ambrose in der Baronie seines Vaters einige Meilen weiter südlich kannte ich in Vintas keine Menschenseele.
Zwar hatte ich auch schon früher gebettelt und gestohlen, aber nur, wenn mir nichts anderes übrig blieb. Beides ist gefährlich, und nur ein vollkommener Narr versucht sich damit in einer Stadt, die er nicht kennt, von einem fremden Land ganz zu schweigen. Ich wusste nicht einmal, gegen welche Gesetze ich damit in Vintas verstoßen hätte. Also biss ich die Zähne zusammen und ergriff die einzige Alternative, die mir offen stand. Ich marschierte barfuß durch die Unterstadt von Severen, bis ich in einem der besseren Viertel ein Leihhaus fand.
Fast eine Stunde wartete ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite, |526| sah die Menschen kommen und gehen und überlegte, ob ich nicht doch noch einen anderen Ausweg fände. Doch mir fiel keiner ein. Also zog ich Threpes Brief und Ninas Bild aus dem Geheimfach meines
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