Die Furcht des Weisen / Band 1
Der Wachtmeister wäre seiner Aufforderung nur zu bereitwillig gefolgt.
Das heißt, im Commonwealth hat der Adel Macht und Geld. In Vintas hat er Macht, Geld und Privilegien. Viele Gesetze gelten nicht für ihn.
Das bedeutete, der gesellschaftliche Rang war in Vintas von allergrößter Bedeutung.
Wenn der Baronet merkte, wie tief ich unter ihm stand, würde er sich entsprechend aufspielen.
Wenn nicht …
Ich überquerte die Straße und straffte gleichzeitig die Schultern, hob das Kinn, streckte den Hals und kniff die Augen ein wenig zusammen. Dann sah ich mich um, als gehöre die ganze Straße mir und als entspräche ihr gegenwärtiger Zustand meinen Erwartungen ganz und gar nicht.
»Baronet Pettur?«, sagte ich forsch.
Der Mann hob den Kopf und lächelte unbestimmt, als könne er mich nicht recht einordnen. »Ja?«
Ich zeigte mit einer kurzen Handbewegung auf die Bastion. »Ihr würdet dem Maer einen großen Dienst erweisen, wenn Ihr mich so schnell wie möglich zu ihm bringen könntet.« Ich sah ihn streng, fast ein wenig ärgerlich an.
»Nun, gewiss.« Der Baronet klang freilich alles andere als gewiss. Ich spürte, wie ihm Fragen kamen und er nach Ausflüchten suchte. »Aber …«
Ich fixierte ihn mit meinem hochmütigsten Blick. Die Edema mochten den niedersten Rang der Gesellschaft bekleiden, aber es gibt keine besseren Schauspieler. Ich war auf der Bühne aufgewachsen, und mein Vater konnte einen König mit einer solchen Majestät |529| spielen, dass die Zuschauer bei seinem Auftritt zuweilen den Hut zogen.
Ich musterte den Mann in seinem geckenhaften Aufzug also mit achatharten Augen, als sei er ein Pferd, auf das ich wetten wollte. »Wenn die Angelegenheit nicht dringlich wäre, würde ich Euch nicht belästigen.« Ich zögerte und fügte ein steifes, unwilliges »Herr« hinzu.
Baronet Pettur erwiderte meinen Blick. Er war nicht annähernd so verunsichert, wie ich gehofft hatte. Wie die meisten Adligen kreiste er nach Art eines Gyroskops ausschließlich um sich selbst, und nur seine Verwirrung hielt ihn davon ab, mir verächtlich den Rücken zuzukehren. Er beäugte mich und überlegte, ob er es riskieren konnte, mich zu kränken, indem er mich nach meinem Namen und der Art unserer Bekanntschaft fragte.
Doch ich hatte noch einen letzten Trumpf im Ärmel. Ich produzierte das schmallippige, scharfe Lächeln, mit dem der Portier im GRAUEN MANN mich empfangen hatte, als ich dort vor Monaten Denna besucht hatte. Es war ein wahres Kunstwerk, dieses Lächeln, von vollendeter Höflichkeit und zugleich so gönnerhaft, als würde ich dem Baronet den Kopf tätscheln wie einem Hund.
Baronet Pettur hielt ihm etwa eine Sekunde lang stand, dann bekam er Risse wie ein Ei. Seine Schultern sackten ein wenig nach vorn, seine Haltung bekam etwas kaum merklich Unterwürfiges. »Ich freue mich immer, wenn ich dem Maer zu Diensten sein kann«, sagte er. »Wenn Ihr erlaubt.« Er ging mir voraus auf den Fuß der Bastion zu.
Ich folgte ihm mit einem Lächeln.
|530| Kapitel 54
Audienz
M it Bluffen und schnellem Reden gelangte ich durch zahlreiche Vorzimmer des Maer. Baronet Pettur half mir durch seine bloße Anwesenheit. Die Begleitung durch ein bekanntes Mitglied des Adels genügte, mir die Türen zum Innersten der Burg zu öffnen. Doch schon nach kurzer Zeit konnte er mir nichts mehr nützen, und ich ließ ihn zurück.
Sobald er verschwunden war, setzte ich meine ungeduldigste Miene auf, fragte einen Diener, der mir über den Weg lief, nach der Richtung und stand kurz darauf vor der äußeren Tür des Audienzzimmers. Dort trat mir ein bieder wirkender Mann mittleren Alters entgegen. Er war korpulent, hatte ein rundliches Gesicht und erinnerte mich trotz seiner vornehmen Kleider an einen Krämer.
Wenn ich mich nicht in der Unterstadt von Severen einige Stunden lang umgehört hätte, hätte ich jetzt womöglich einen verhängnisvollen Fehler begangen und versucht, mich auch an ihm vorbeizumogeln, in der Annahme, es handle sich lediglich um einen besser gekleideten Lakaien.
Dabei war er die Person, die ich suchte: der Kammerdiener des Maer namens Stapes. Er mochte wie ein Krämer aussehen, strahlte aber eine natürliche Autorität aus. An seiner ruhigen, bestimmten Art wäre der herrische, überhebliche Ton, mit dem ich den Baronet eingeschüchtert hatte, abgeprallt.
»Wie kann ich Euch helfen?«, fragte er. Er klang höflich, doch lauerten hinter seinen Worten weitere Fragen.
Wer seid Ihr? Was habt Ihr hier zu
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