Die Furcht des Weisen / Band 1
hätte ich ausgesehen wie ein halb verhungertes Straßenkind. So war ich gut gekleidet und von der Seefahrt gebräunt. Mein hageres Gesicht machte mich einige Jahre älter.
Alveron betrachtete mich eine Weile nachdenklich, dann nickte er, offenbar zufrieden. »Ausgezeichnet. Leider bin ich im Moment sehr beschäftigt. Kannst du morgen wiederkommen?« Es war im Grunde keine Frage. »Hast du schon ein Quartier in der Stadt gefunden?«
»Ich habe noch nicht gesucht, Euer Gnaden.«
»Dann wohnst du hier«, sagte er unbewegt. »Stapes?« Er hatte die Stimme kaum erhoben, doch der beleibte, wie ein Krämer aussehende Kammerdiener erschien sofort. »Bring unseren Gast im Südflügel in der Nähe des Gartens unter.« Er wandte sich wieder mir zu. »Kommt dein Gepäck nach?«
»Ich habe unterwegs leider alles verloren, Euer Gnaden. Durch einen Schiffbruch.«
Alveron hob für einen kurzen Moment die Augenbrauen. »Stapes wird dafür sorgen, dass du alles hast.« Er faltete Threpes Brief zusammen und entließ mich mit einer Handbewegung. »Einen schönen Abend.«
Ich verbeugte mich rasch und folgte Stapes aus dem Zimmer.
Ich hatte noch nie so prächtige Gemächer gesehen, geschweige denn bewohnt. Sie waren mit Holz getäfelt und hatten Marmorböden. Das Himmelbett besaß eine dicke Federmatratze, und als ich die Vorhänge aufzog und mich hineinlegte, erschien es mir so groß wie mein ganzes Zimmer im ANKER’S.
Meine Unterkunft war so schön, dass ich fast einen ganzen Tag brauchte, um zu begreifen, wie sehr ich sie verabscheute.
Ein Vergleich mit Schuhen kann verstehen helfen, was ich meine. Man will nicht das größte Paar, sondern eins, das passt. Sind die Schuhe zu groß, scheuern sie, und man bekommt Blasen.
|534| Ganz ähnlich verursachte mir meine Unterkunft Unbehagen. Ich hatte einen riesigen leeren Kleiderschrank zu meiner Verfügung, außerdem Kommoden und ein Bücherregal. Mein Zimmer im ANKER’S war klein gewesen, aber in meinen neuen Gemächern kam ich mir vor wie eine getrocknete Erbse, die in einer leeren Schmuckkassette hin und her rollt.
Die Zimmer waren einerseits zu groß für meine nicht existierende Habe, andererseits aber auch zu klein. Denn ich sah mich gezwungen, dort zu warten, bis der Maer mich rief. Da ich keine Vorstellung hatte, wann das der Fall sein würde, saß ich gewissermaßen fest.
Doch muss ich seiner Gastfreundschaft auch einiges zugute halten. Das Essen schmeckte ausgezeichnet, auch wenn es nach dem langen Weg aus der Küche immer schon ein wenig kalt war. Außerdem verfügte ich zu meiner Freude über eine kupferne Badewanne. Diener brachten das warme Wasser, der Abfluss erfolgte durch mehrere Röhren. Ich hatte nicht damit gerechnet, solche Annehmlichkeiten so weit entfernt von der kultivierten Welt der Universität vorzufinden.
Ein Schneider des Maer suchte mich auf, ein zappeliges Männchen, das mich auf sechs Dutzend verschiedene Arten vermaß und mich zugleich ununterbrochen plappernd über den Klatsch des Hofes unterrichtete. Bereits am folgenden Tag brachte ein Laufbote zwei aufwendige Kleidergarnituren in Farben, die mir ausgezeichnet standen.
So stellte sich das Unglück, das mich auf See ereilt hatte, im Nachhinein als Glück heraus. Ich hätte mir selbst mit Threpes Hilfe nicht annähernd solche Kleider leisten können, wie Alverons Schneider sie für mich genäht hatte. In ihnen bot ich während meines Aufenthalts in Severen einen überaus eindrucksvollen Anblick.
Und es kam noch besser. Der geschwätzige Schneider hatte, während er Maß nahm, erwähnt, dass derzeit Mäntel in Mode seien. Ich ergriff die Gelegenheit, pries den Umhang, den Fela mir einst geschenkt hatte, in den höchsten Tönen und bedauerte seinen Verlust zutiefst.
Das Ergebnis war ein Mantel in herrlichem Weinrot. Regen hielt er zwar nicht ab, aber er gefiel mir trotzdem. Er verlieh mir ein schneidiges |535| Aussehen und hatte natürlich zahlreiche praktische kleine Taschen.
Ich war also aufs Beste gekleidet, ernährt und untergebracht. Doch trotz dieses Luxus ging ich am nächsten Tag zur Mittagszeit schon in meinen Zimmern auf und ab wie eine in einer Kiste eingesperrte Katze. Zu gern wäre ich ausgebüxt, hätte meine Laute beim Pfandleiher ausgelöst und in Erfahrung gebracht, warum der Maer die Dienste eines klugen, beredten und vor allem diskreten Menschen suchte.
|536| Kapitel 55
Höflichkeit
I ch spähte durch einen Spalt in der Hecke. Der Maer saß in seinem Garten im Schatten
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