Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Furcht des Weisen / Band 1

Die Furcht des Weisen / Band 1

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
Vom Netzwerk:
verwandelte den Weg vor uns in einen schattigen Tunnel aus üppigem, tiefgrünem Laub.
    »Dann sagen wir, ich hätte drei Freunde beauftragt«, verbesserte sich der Maer. »Dann bin ich auf einmal so stark wie drei Männer! Auch wenn mein Feind sehr stark wäre, mit ihnen könnte er es nicht aufnehmen. Sieh dir die Selas an. Wie ich höre, ist es sehr schwer, sie zu ziehen.«
    Wir tauchten in den Laubengang ein, in dessen Schatten Hunderte von Blüten tiefrot leuchteten. Sie verströmten einen zarten, süßen Duft. Ich strich mit der Hand über eine Blüte. Sie war unvorstellbar weich, und ich musste an Denna denken.
    Der Maer nahm das Gespräch wieder auf. »Du hast noch nicht begriffen, worum es geht. Sich Verstärkung zu holen ist nur ein kleines Beispiel. Einige Formen der Macht kann man nur von außen bekommen.«
    Er zeigte mit einer unauffälligen Handbewegung nach vorn. »Siehst du den Comte Farlend dort? Er würde auf eine entsprechende Frage antworten, sein Titel gehöre ihm, sei ein Teil seiner selbst wie sein Blut, geradezu ein Teil seines Blutes. Die meisten Adligen würden ihm zustimmen. Sie würden sagen, ihre Abstammung berechtige sie dazu, zu herrschen.«
    Der Maer sah mich an. Seine Augen funkelten belustigt. »Aber sie irren. Ihre Macht ist ihnen nicht angeboren, sondern verliehen. Ich könnte dem Comte jederzeit seine Ländereien wegnehmen, und er würde als Bettler auf der Straße enden.«
    Alveron winkte mich näher zu sich. »Ich vertraue dir jetzt ein großes Geheimnis an: Dasselbe gilt für meinen Titel, meinen Besitz und meine Herrschaft über Menschen und Land. Auch meine Macht ist mir von außen gegeben. Sie gehört mir genauso wenig wie die Kraft deines Arms.« Er berührte meine Hand und lächelte. »Aber im Unterschied zu den anderen weiß ich das, und das macht mich ihnen überlegen.« Er straffte sich und sagte mit seiner normalen Stimme: »Guten Tag, Comte. Ein schöner Tag für einen Spaziergang in der Sonne, nicht wahr?«
    |544| »So ist es, Euer Gnaden. Die Selas blühen wunderschön.« Der Comte war untersetzt und hatte ein feistes Gesicht und einen buschigen Schnurrbart. »Meinen Glückwunsch.«
    Er ging an uns vorbei und Alveron fuhr fort: »Hast du gehört, wie er
mir
zu den Blumen gratuliert? Dabei habe ich in meinem ganzen Leben noch nie im Garten gearbeitet.« Er sah mich von der Seite an und lächelte triumphierend. »Glaubst du immer noch, die Macht, die auf unseren Fähigkeiten beruht, sei die größere?«
    »Ihr argumentiert sehr schlüssig, Euer Gnaden«, sagte ich. »Allerdings …«
    »Du bist schwer zu überzeugen. Ein letztes Beispiel also. Du stimmst mir sicher zu, dass ich nie ein Kind gebären werde.«
    »Das kann man wohl gefahrlos behaupten, Euer Gnaden.«
    »Doch wenn eine Frau bereit wäre, mich zu heiraten, könnte ich von ihr einen Sohn bekommen. Kraft von außen hilft mir, schnell wie ein Pferd und stark wie ein Ochse zu werden. Die eigene Kraft reicht dazu nicht aus.«
    Dem konnte ich schlecht widersprechen. »Ich beuge mich Euren Argumenten, Euer Gnaden.«
    »Und ich verneige mich vor der Klugheit deiner Einsicht.« Der Maer lachte leise. Im selben Augenblick schlug in einiger Entfernung eine Glocke die Stunde. »Zu schade.« Er verzog ärgerlich das Gesicht. »Ich muss meine schreckliche Arznei einnehmen, sonst ist Caudicus gleich wieder eine ganze Spanne eingeschnappt.« Auf meinen fragenden Blick fügte er hinzu: »Er hat herausgefunden, dass ich sie gestern in den Nachttopf geschüttet habe.«
    »Ihr solltet auf Eure Gesundheit achten, Euer Gnaden.«
    Alveron zuckte zusammen. »Was fällt dir ein!«, wies er mich scharf zurecht.
    Ich lief vor Verlegenheit rot an und wollte mich hastig entschuldigen, doch er winkte mit einer Handbewegung ab. »Du hast ja recht. Ich weiß selber, dass ich meine Arznei nehmen muss. Aber du klingst wie Caudicus, und ein Quacksalber reicht mir.«
    Er brach ab und nickte einem Paar zu, das uns entgegenkam. Der Mann war hoch gewachsen und gut aussehend, nur wenige Jahre älter als ich. Die Frau mochte dreißig sein. Sie hatte schwarze Augen, |545| und ihre Lippen waren hochmütig zusammengekniffen. »Guten Abend, Lady Hesua. Ich hoffe doch, es geht Eurem Vater besser?«
    »Oh ja«, antwortete die Frau. »Der Arzt meint, er könne noch vor Ablauf einer Spanne wieder aufstehen.« Sie begegnete meinem Blick und erwiderte ihn kurz. Ihr roter Mund verzog sich zu einem wissenden Lächeln.
    Die beiden gingen an uns vorbei. Mir war

Weitere Kostenlose Bücher