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Die Furcht des Weisen / Band 1

Die Furcht des Weisen / Band 1

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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seiner Augen war auf einmal vollkommen klar. Jeder kannte die Harzsüchtigen.
    »Caudicus hat es vermutlich hinzugefügt, weil Ihr die Arznei nicht regelmäßig eingenommen habt«, sagte ich. »Das Ophalum macht Euch danach süchtig, während es gleichzeitig die Schmerzen lindert. Es würde auch Euren Heißhunger auf Zucker und Eure Schweißausbrüche erklären. Wenn Ihr seltsame Träume habt, geht das ebenfalls darauf zurück. Was könnte er noch hineingemischt haben?«, überlegte ich laut. »Wahrscheinlich Stichwurz oder Mannum, damit Ihr nicht zu viel erbrecht. Höchst raffiniert und zugleich schrecklich.«
    »Nicht raffiniert genug.« Der Maer lächelte angestrengt. »Es ist ihm nicht gelungen, mich zu töten.«
    Ich zögerte und beschloss dann, ihm die Wahrheit zu sagen. »Das wäre einfach gewesen, Euer Gnaden. Er hätte in dieser Flüssigkeit mühelos genügend Blei auflösen können, um Euch zu töten.« Ich hielt das Fläschchen ins Licht. »Die Kunst besteht darin, Euch krank zu machen, ohne Euch zu töten oder zu lähmen.«
    »Aber warum? Warum sollte er mich vergiften, wenn er mich nicht töten will?«
    »Dieses Rätsel könnt Ihr selbst besser lösen als ich. Ihr wisst mehr über die Machtkämpfe bei Hof.«
    »Warum will er mich überhaupt vergiften?« Der Maer klang aufrichtig verwirrt. »Ich bezahle ihn üppig. Er steht als Mitglied des |574| Hofes in hohem Ansehen und kann jederzeit eigenen Vorhaben nachgehen und nach Belieben reisen. Er lebt hier schon seit einem Dutzend Jahre. Warum ausgerechnet jetzt?« Er schüttelte den Kopf. »Ich sage dir, das ergibt keinen Sinn.«
    »Vielleicht tut er es für Geld?«, schlug ich vor. »Jeder Mann hat seinen Preis, heißt es.«
    Der Maer schüttelte wieder den Kopf. Dann sah er plötzlich auf. »Nein. Mir ist gerade etwas eingefallen. Ich war schon lange krank, bevor Caudicus mit seiner Behandlung anfing.« Er überlegte. »Ja, das stimmt. Ich fragte bei ihm an, ob er meine Krankheit behandeln könnte. Und die Symptome, die du aufgezählt hast, zeigten sich erst Monate nachdem er mit seiner Behandlung begonnen hatte. Damit konnte er nichts zu tun haben.«
    »In kleinen Dosen verabreicht wirkt Blei nur langsam, Euer Gnaden. Wenn er Euch vergiften wollte, konnte er nicht daran interessiert sein, dass Ihr seine Arznei einnehmt und zehn Minuten später wie verrückt kotzt.« Mir fiel plötzlich wieder ein, mit wem ich sprach. »Entschuldigt bitte meine Ausdrucksweise, Euer Gnaden.«
    Der Maer nickte steif. »Vieles von dem, was du sagst, kommt der Wahrheit so nahe, dass ich es nicht einfach ignorieren kann. Trotzdem fällt mir schwer zu glauben, dass Caudicus so etwas tut.«
    »Wir können die Probe aufs Exempel machen, Euer Gnaden.«
    Er hob den Kopf. »Wie das?«
    »Lasst ein halbes Dutzend Vögel hierher bringen. Flittiche wären ideal.«
    »Flittiche?«
    »Kleine, leuchtend gelbe und rote Vögel.« Ich hob die Hand und hielt Daumen und Zeigefinger etwa fünf Zentimeter auseinander. »Sie bevölkern Euren Garten in Scharen und trinken den Nektar der Selasblüten.«
    »Ach so. Wir nennen sie Schnipper.«
    »Wir mischen Eure Arznei mit ihrem Nektar und warten ab, was passiert.«
    Er sah mich düster an. »Wenn Blei so langsam wirkt, wie du sagst, müssten wir monatelang warten. Ich werde aber wegen einer unbewiesenen |575| Vermutung nicht so lange auf meine Medizin verzichten.« Er klang wieder ungeduldig und wütend.
    »Die Vögel sind viel leichter als Ihr, und ihr Stoffwechsel ist viel schneller. Wir hätten nach einem oder spätestens zwei Tagen ein Ergebnis.«
Hoffte ich jedenfalls.
    Der Maer überlegte. »Also gut«, sagte er schließlich und hob die Glocke auf seinem Nachttisch.
    »Darf ich Euch bitten, einen Grund zu erfinden, aus dem Ihr diese Vögel braucht?«, sagte ich hastig, bevor er läuten konnte. »Wir sollten Vorsicht walten lassen.«
    »Ich kenne Stapes schon, so lange ich lebe«, erwiderte der Maer bestimmt. Sein Blick war so klar und wach wie zu Beginn unserer Bekanntschaft. »Ich würde ihm mein Vermögen, meine Ländereien und mein Leben anvertrauen. Ich will nie wieder eine Andeutung von dir hören, die seine vollkommene Vertrauenswürdigkeit in Zweifel zieht.« Aus seiner Stimme klang felsenfeste Überzeugung.
    Ich schlug die Augen nieder. »Ja, Euer Gnaden.«
    Er läutete. Kaum zwei Sekunden später öffnete der korpulente Kammerdiener die Tür. »Jawohl, Herr?«
    »Stapes, ich vermisse die Spaziergänge im Garten. Könnt Ihr mir ein

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