Die Furcht des Weisen / Band 1
Glasfläschchen und verstöpselte es mit einem Korken.
Dann hielt er es für mich in die Höhe. Es war mit einer durchsichtigen, bernsteinfarbenen Flüssigkeit mit einem leichten Stich ins Grünliche gefüllt. »Bitte sehr. Er soll es ganz trinken.«
Ich nahm das noch warme Fläschchen. »Wie war das mit dem Erbstück?«
Caudicus wusch sich in einer Porzellanschale die Hände und schüttelte sie aus. »Im ältesten Teil ihrer Stammburg gibt es offenbar eine geheime Tür, die weder einen Griff noch Angeln hat.« Er vergewisserte sich durch einen Blick, dass ich ihm zuhörte. »Man kann diese Tür nicht öffnen. Sie ist abgeschlossen, hat aber kein Schloss. Niemand weiß, was sich dahinter verbirgt.«
Er wies mit einem Nicken auf das Fläschchen in meiner Hand. »Jetzt bringt das dem Maer. Er soll es trinken, solange es noch warm ist.« Er begleitete mich zur Tür. »Kommt morgen wieder.« Er lächelte süffisant. »Ich kann Euch eine Geschichte über die Menebras erzählen, bei der Ihr weiße Haare kriegt.«
»Ich arbeite immer nur über eine Familie«, sagte ich, um nicht in endlosem Hofklatsch zu versinken. »Allerhöchstens über zwei. Gerade beschäftige ich mich mit den Alverons und den Lackless. Mit einer dritten anzufangen wäre mir zu viel.« Ich lächelte einfältig. »Dann würde ich alles durcheinanderbringen.«
»Schade«, meinte Caudicus. »Denn ich komme viel herum. Viele Adlige betrachten es als Ehre, den persönlichen Arkanisten des Maer zu beherbergen.« Er sah mich listig an. »Auf diese Weise erfahre ich so manches Interessante.« Er öffnete die Tür. »Denkt darüber nach. Und kommt morgen wieder. Über die Lackless kann ich Euch jedenfalls noch einiges erzählen.«
|569| Das Fläschchen war noch warm, als ich wieder vor der Tür zu den Gemächern des Maer stand. Stapes öffnete mir auf mein Klopfen und führte mich hinein.
Der Maer schlief noch genau so, wie ich ihn zurückgelassen hatte. Doch sobald Stapes die Tür hinter mir geschlossen hatte, öffnete er die Augen einen Spalt und winkte mich kraftlos herbei. »Du hast dir Zeit gelassen.«
»Euer Gnaden, ich …«
Er winkte wieder, diesmal heftiger. »Gib mir die Arznei«, sagte er undeutlich. »Und dann geh. Ich bin müde.«
»Ich muss Euch aber noch etwas sehr Wichtiges mitteilen, Euer Gnaden.«
Der Maer sah mich an. In seinen Augen glomm wieder ein wütender Funke. »Was denn?«, fragte er barsch.
Ich trat neben das Bett und beugte mich über ihn. Bevor er gegen diese Frechheit protestieren konnte, flüsterte ich: »Caudicus vergiftet Euch, Euer Gnaden.«
|570| Kapitel 60
Mutter der Weisheit
D ie Augen des Maer weiteten sich für einen kurzen Moment, dann schloss er sie wieder halb. Trotz aller Hinfälligkeit war sein Verstand messerscharf. »Gut, dass du so leise gesprochen hast«, sagte er. »Du wagst dich auf gefährliches Terrain. Aber sprich weiter, ich höre dir zu.«
»Threpe hat in seinem Brief wahrscheinlich nicht erwähnt, dass ich nicht nur Musiker bin, sondern auch an der Universität studiere, Euer Gnaden.«
Der Maer blickte mich vollkommen unbewegt an. »An welcher Universität?«
»An
der
Universität, Euer Gnaden. Ich bin Mitglied des Arkanums.«
Alveron runzelte die Stirn. »Dazu bist du viel zu jung. Und warum hätte Threpe es in seinem Brief unterschlagen sollen?«
»Ihr habt keinen Arkanisten gesucht, Euer Gnaden. Außerdem genießt dieses Studium hier im Osten nicht den besten Ruf.« Deutlicher konnte ich die Wahrheit nicht aussprechen: Die Vintaner sind so abergläubisch, dass es an Dummheit grenzt.
Der Maer starrte mich an, und seine Miene verfinsterte sich. »Also gut«, meinte er schließlich, »wenn du wirklich bist, was du behauptest, zaubere etwas für mich.«
»Ich bin noch in der Ausbildung, Euer Gnaden. Aber wenn ich etwas zaubern soll …« Ich sah die drei Lampen an den Wänden an, leckte mir zwei Finger an, konzentrierte mich und drückte den Docht der Kerze auf dem Nachttischchen aus.
Im Zimmer wurde es dunkel, und ich hörte den Maer geräuschvoll einatmen. Ich zog meinen silbernen Ring aus der Tasche. Im |571| nächsten Moment begann er silbrig-blau zu leuchten. Da mir als Wärmequelle nur mein eigener Körper zur Verfügung stand, bekam ich dabei kalte Hände.
»Das genügt«, sagte der Maer. Wenn er erschrocken war, war es ihm jedenfalls nicht anzumerken.
Ich ging zum Fenster und öffnete die Läden. Sonnenlicht strömte herein und mit ihm der feine Duft der Selasblüten und
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