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Die Furcht des Weisen / Band 1

Die Furcht des Weisen / Band 1

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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der zu locker saß. Wir waren lange voneinander getrennt gewesen und mussten uns erst wieder aneinander gewöhnen.
    Stunden vergingen. Ich ertappte mich dabei, wie ich abwesend
Taubnessels Klage
zupfte, und zwang mich, damit aufzuhören. Der Mittag kam und ging. Das Mittagessen wurde gebracht und wieder abgeräumt. Ich stimmte die Laute neu und spielte einige Tonleitern. Unversehens spielte ich
Verlass die Stadt, Kessler
. Erst jetzt begriff ich, was meine Hände mir sagen wollten. Wenn der Maer noch lebte, hätte er mich inzwischen gerufen.
    Ich hörte auf zu spielen und dachte angestrengt nach. Ich musste von hier verschwinden, und zwar sofort. Stapes hatte mitbekommen, dass ich den Maer mit Medikamenten behandelte. Man konnte mich auch beschuldigen, den Inhalt des Fläschchens ausgetauscht zu haben, das ich von Caudicus gebracht hatte.
    Nach und nach begriff ich die Aussichtslosigkeit meiner Lage, |593| und mir wurde vor Angst ganz flau im Magen. Ich kannte die weitläufige Burg des Maer nicht gut genug, um daraus zu fliehen. Auf dem Weg in die Stadt am Morgen hatte ich mich mehrmals verlaufen und nach dem Weg fragen müssen.
    Das Klopfen an der Tür klang lauter als gewöhnlich und heftiger als das Klopfen des Botenjungen, der mir sonst die Einladungen des Maer überbrachte. Wachen. Ich saß wie gelähmt da. Sollte ich aufmachen und die Wahrheit sagen? Oder durch das Fenster in den Garten klettern und weglaufen?
    Es klopfte wieder, diesmal noch lauter.
    Die Stimme wurde durch die Tür gedämpft, aber sie gehörte nicht einer Wache. Ich machte auf. Vor mir stand ein Laufbursche mit einem Tablett, auf dem der eiserne Ring und die Karte des Maer lagen.
    Ich nahm beides. Auf der Karte stand in zittriger Schrift ein einziges Wort:
Sofort.

    Stapes machte einen ungewöhnlich zerzausten Eindruck und begrüßte mich mit einem eisigen Blick. Gestern hatte er gewirkt, als sähe er mich am liebsten tot und begraben. Heute schien sein Blick zu sagen, dass ihm begraben reichte.
    Im Schlafzimmer des Maer standen überall Selasblumen. Den Gestank, dessentwegen man sie ins Zimmer gebracht hatte, konnten sie mit ihrem feinen Duft allerdings nicht vollständig überdecken. Das im Verein mit Stapes’ zerzaustem Äußeren bestätigte mir, dass meine Vorhersage einer unangenehmen Nacht in etwa der Wahrheit entsprochen hatte.
    Alveron saß mit geschlossenen Augen auf ein Kissen gestützt im Bett. Er sah den Umständen entsprechend müde aus, schwitzte aber nicht mehr und schien auch keine quälenden Schmerzen mehr zu leiden. Sein Aussehen erinnerte mich geradezu an einen Engel: Die Sonne, die durch das Fenster auf ihn fiel, verlieh seiner Haut etwas Zartes, Durchscheinendes, und sein ungekämmtes Haar umgab seinen Kopf wie eine silbern leuchtende Krone.
    |594| Als ich näher trat, öffnete er die Augen und zerstörte die schöne Illusion. Kein Engel hatte Augen wie Alveron.
    »Ich hoffe doch, es geht Euch gut?«, fragte ich höflich.
    »Danke, bestens«, antwortete er, doch es war nur eine nichtssagende Floskel.
    »Wie fühlt Ihr Euch?«, fragte ich ernster.
    Er gab mir durch einen langen Blick zu verstehen, dass er meinen vertraulichen Ton nicht billigte. Dann sagte er: »Alt. Alt und schwach.« Er holte tief Luft. »Aber insgesamt besser als seit Tagen. Ein wenig Schmerzen habe ich noch, und ich bin sehr müde. Aber ich fühle mich … gereinigt. Ich glaube, ich habe die Krise überstanden.«
    Ich fragte nicht nach der vergangenen Nacht. »Soll ich wieder Tee für Euch kochen?«
    »Ja bitte.« Er klang ruhig und höflich. Sein Ton verriet nicht, in welcher Stimmung er sich befand. Ich bereitete hastig den Tee zu und reichte ihm die Tasse.
    Der Maer nahm einen Schluck und hob den Kopf. »Er schmeckt anders.«
    »Er enthält weniger Laudanum«, erklärte ich. »Zu viel davon würde Euch schaden. Euer Körper würde davon abhängig werden wie zuvor vom Ophalum.«
    Der Maer nickte. Dann sagte er ein wenig zu beiläufig: »Wie du siehst, geht es den Vögeln gut.«
    Ich blickte durch die Tür. Die Flittiche flatterten munter durch ihren goldenen Käfig. Mich überlief es kalt. Offenbar glaubte er immer noch nicht, dass Caudicus ihn vergiften wollte.
    Mir fiel auf die Schnelle keine passende Antwort ein. Erst nachdem ich ein paar Mal Luft geholt hatte, brachte ich heraus: »Ihre Gesundheit kümmert mich viel weniger als Eure. Und es geht Euch doch wirklich besser, nicht wahr, Euer Gnaden?«
    »Das liegt an der Art meiner Krankheit. Sie

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