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Die Furcht des Weisen / Band 1

Die Furcht des Weisen / Band 1

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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und sie mich sah, wusste sie, dass ich sie beschattet hatte. Wenn ich ihr nicht folgte, verlor ich sie. Und auch wenn das Viertel nicht wirklich gefährlich war, wollte ich sie so spät nachts doch nicht allein lassen.
    Ich ließ den Blick über die nächsten Häuser wandern. Eins davon war aus bröckelnden Feldsteinen gebaut. Rasch sah ich mich um und kletterte flink wie ein Eichhörnchen die Fassade hinauf. Auch diese nützliche Fähigkeit war mir aus meiner vergeudeten Kindheit geblieben.
    Auf dem Dach angelangt, konnte ich ohne Schwierigkeiten über die Dächer einiger weiterer Häuser laufen. Zuletzt drückte ich mich in den Schatten eines Schornsteins und spähte in die Gasse hinunter. Über mir stand die Sichel des Mondes. Entweder Denna kürzte zur nächsten Straße ab, oder sie traf sich im Schatten der Häuser mit ihrem zwielichtigen Schirmherrn.
    Weder das eine noch das andere traf zu. Im trüben Lampenschein aus einem Obergeschoss lag eine Frau reglos auf der Gasse. Mein Herz begann zu hämmern, bis ich begriff, dass es sich nicht um Denna handelte. Denna trug Hemd und Hose, die Frau dagegen ein zerknittertes weißes Kleid. Ihre nackten Beine hoben sich hell vom dunklen Pflaster ab.
    Aufgeregt suchte ich die Gasse ab. Denna stand außerhalb des Lichtkegels vor einem breitschultrigen Mann mit einem im Mondlicht aufleuchtenden kahlen Schädel. Umarmte sie ihn? War er ihr Schirmherr?
    Meine Augen hatten sich endlich an die Dunkelheit gewöhnt, und ich sah, dass die beiden zwar nah voreinander standen, Denna den Mann aber keineswegs umarmte. Sie hatte die Hand an seinen Hals |677| gelegt, und zwischen Hand und Hals blitzte im Mondlicht etwas Metallisches auf wie ein ferner Stern.
    Die Frau auf dem Boden begann sich zu bewegen, und Denna rief ihr etwas zu. Unsicher stand die Frau auf, trat dabei auf den Saum ihres Kleides und wäre fast wieder gestürzt. Dann ging sie langsam und an die Mauer des Hauses gedrückt an Denna und dem Mann vorbei und auf den Eingang der Gasse zu.
    Sobald sie sich ein Stück entfernt hatte, sagte Denna wieder etwas. Ich war zu weit entfernt, um die Worte zu verstehen, aber ihre Stimme klang so hart und zornig, dass sich mir die Haare auf den Armen sträubten.
    Als Denna von dem Mann abließ, wich er einige Schritte zurück und hob die Hand an die Kehle. Dann begann er unflätige Verwünschungen gegen Denna auszustoßen. Er spuckte und bewegte die freie Hand, als wollte er sie packen. Seine Stimme übertönte die von Denna, aber er sprach so undeutlich, dass ich ihn nicht verstand. Nur das Wort »Hure« hörte ich einige Male heraus.
    Trotz seiner Erregung wagte er es offenbar nicht, sich Denna zu nähern. Denna stand in selbstsicherer Pose vor ihm und sah ihn an. Das Messer hielt sie in Hüfthöhe vor sich. Die Spitze zeigte auf den Mann. Sie wirkte fast entspannt. Aber auch nur fast.
    Der Mann schimpfte noch eine Weile vor sich hin, trat schlurfend einen Schritt vor und schüttelte die Faust. Denna sagte etwas und machte mit dem Messer eine kurze, ruckartige Bewegung in Richtung seiner Lenden. Der Mann verstummte, und seine Schulterpartie versteifte sich. Denna wiederholte die Bewegung, und der Mann begann erneut leise Verwünschungen auszustoßen. Dann wandte er sich ab und entfernte sich, die Hand weiter an den Hals gedrückt.
    Denna sah ihm nach, ließ das Messer sinken und steckte es vorsichtig ein. Dann drehte sie sich um und kehrte zum Anfang der Gasse zurück.
    Unterdessen eilte ich über die Dächer zur Fassade des ersten Hauses. Denna und die Frau standen nun im Schein einer Laterne unter mir. In ihrem Licht sah ich, dass die Frau viel jünger war, als ich angenommen hatte: ein schmächtiges Mädchen, dessen Schultern von Schluchzern geschüttelt wurden. Denna streichelte ihr beschwichtigend |678| den Rücken, und das Mädchen beruhigte sich allmählich wieder. Die beiden entfernten sich.
    Ich eilte zu einem alten eisernen Fallrohr, das mir bereits zuvor aufgefallen war, ein vergleichsweise einfacher Weg, zur Straße hinunterzugelangen. Trotzdem kostete es mich zwei lange Minuten und einige aufgeschürfte Fingerknöchel, bis ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte.
    Ich musste meinen ganzen Willen aufbieten, um nicht aus der Gasse hinaus und hinter Denna und dem Mädchen herzurennen. Aber auf keinen Fall durfte Denna entdecken, dass ich ihr gefolgt war.
    Zum Glück gingen die beiden nicht allzu schnell, so dass ich sie nicht aus den Augen verlor. Denna führte das

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