Die Furcht des Weisen / Band 1
sollte. Bast hielt ihn mit steifen Armen von sich weg und sah dabei zu Kvothe. Die Neugier im Gesicht des Jungen wich der Verwirrung und schließlich der Kümmernis. Leise begann er zu wimmern. Er schien noch zu überlegen, ob er weinen wollte oder nicht, und gelangte dann zu dem Schluss, dass er es in der Tat wollte.
|790| »Du meine Güte, Bast«, sagte Kvothe ungeduldig. »Gib her.« Er trat herbei, nahm den Jungen, setzte ihn auf den Tresen und hielt ihn mit beiden Händen, damit er nicht umkippte.
Auf dem Tresen schien es dem Jungen besser zu gefallen. Neugierig fuhr er mit der Hand über die glatte Oberfläche und hinterließ einen Fleck. Er sah Bast an und lächelte. »Hund«, sagte er.
»Charmant«, murmelte Bast.
Der kleine Ben steckte die Finger in den Mund und sah sich wieder um. Er schien etwas zu suchen. »Mam«, sagte er. »Mamamama.« Ein bekümmerter Blick trat in seine Augen, und er begann wieder wie schon zuvor leise zu wimmern.
»Halte ihn«, sagte Kvothe und trat vor den Jungen. Sobald Bast ihn wieder genommen hatte, ergriff Kvothe die Füße des Jungen und begann zu deklamieren:
Schuster, Schuster, mache mir Schuh.
Bauer, Bauer, pflanz Weizen dazu.
Bäcker, Bäcker, backe mir Brot.
Schneider, mach mir ein Mützlein rot.
Der Junge sah aufmerksam zu, wie Kvothe zu jedem Vers eine andere Handbewegung machte und etwa Weizen säte oder Teig knetete. Beim letzten Vers gluckste er entzückt und schlug sich wie der rothaarige Mann vor ihm mit den Händen auf den Kopf.
Müller, Müller, kein falsches Gewicht.
Milchmagd, füll deinen Eimer recht.
Töpfer, Töpfer, dreh einen Krug.
Bübchen, küss Papa, dann ist’s genug.
Zum letzten Vers machte Kvothe keine Handbewegung. Stattdessen legte er den Kopf schräg und sah Bast erwartungsvoll an.
Bast erwiderte den Blick verwirrt. Dann dämmerte ihm, was Kvothe damit sagen wollte. »Wie kannst du das denken, Reshi?«, fragte er empört und zeigte auf den Jungen. »Er ist blond!«
Der Junge sah zwischen den beiden Männern hin und her und beschloss, |791| dass er jetzt doch lieber weinen wollte. Er verzog das Gesicht und begann zu jammern.
»Das ist jetzt deine Schuld«, sagte Bast entschieden.
Kvothe hob den Jungen vom Tresen hoch und wiegte ihn ein wenig hin und her, um ihn zu beruhigen, allerdings ohne hörbaren Erfolg. Im nächsten Augenblick kehrte Mary in den Schankraum zurück. Der Kleine heulte noch lauter und bog sich mit ausgestreckten Händen zu seiner Mutter hin.
»Tut mir leid«, sagte Kvothe ein wenig verlegen.
Mary nahm den Jungen auf und er verstummte augenblicklich. Die Tränen standen ihm noch in den Augen. »Dafür kannst du nichts«, sagte sie. »Er klammert sich in letzter Zeit furchtbar an seine Mutter.« Sie rieb lächelnd ihre Nase an Bens Nase und Ben fing wieder glucksend an zu lachen.
»Was habt Ihr ihnen berechnet?«, fragte Kvothe, nachdem er zum Tisch des Chronisten zurückgekehrt war.
Der Chronist hob die Schultern. »Anderthalb Pennys.«
Kvothe hielt mitten im Hinsetzen inne und kniff die Augen zusammen. »Das deckt nicht einmal die Kosten des Papiers.«
Der Chronist sah ihn an. »Aber ich habe schließlich Ohren. Der Schmiedelehrling sagte, die Bentleys hätten nicht viel Geld. Und selbst wenn er es nicht gesagt hätte, hätte ich es doch gesehen. Die Hosen des Mannes sind an den Knien zerschlissen und seine Stiefel fast durchgelaufen. Das Kleid des Mädchens ist zu kurz und besteht zur Hälfte aus Flicken.«
Kvothe nickte grimmig. »Ihr Feld im Süden ist zwei Jahre hintereinander überschwemmt worden. Und in diesem Frühjahr sind ihre beiden Ziegen gestorben. Selbst wenn wir gute Zeiten hätten, wäre es für sie ein schlechtes Jahr. Und mit dem kleinen Baby …« Er holte tief Luft und ließ sie mit einem langen, nachdenklichen Seufzer entweichen. »Schuld sind die Steuern. Wir mussten dieses Jahr schon zweimal zahlen.«
»Soll ich den Zaun noch einmal einreißen, Reshi?«, fragte Bast eifrig.
»Pst, Bast!« Ein Lächeln zuckte um Kvothes Mundwinkel. »Diesmal |792| müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen.« Sein Lächeln wich. »Bevor die nächste Steuer kommt.«
»Vielleicht kommt keine mehr«, sagte der Chronist.
Kvothe schüttelte den Kopf. »Bis zur Ernte nicht, aber dann bestimmt. Die regulären Steuereintreiber sind schon schlimm genug, aber sie wissen wenigstens, dass sie gelegentlich auch einmal wegsehen müssen. Sie wissen, dass sie im folgenden Jahr und im Jahr
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