Die Furcht des Weisen / Band 1
Meine Mutter hat mir als Kind die Geschichte hundert Mal genau so erzählt.«
Dedan schien noch eine Frage stellen zu wollen, nickte dann aber in einem seltenen Moment der Einsicht nur.
Hespe unterbrach ihre Einleitung ein wenig widerstrebend und blickte stirnrunzelnd auf ihre Hände. Eine Weile bewegte sie stumm die Lippen, dann nickte sie entschlossen und fuhr fort.
Wer Jax sah, merkte sofort, dass er anders war als andere Kinder. Er spielte nicht, machte keine Streiche und lachte nie.
Einige sagten: »Was kann man von einem Jungen erwarten, der allein in einem kaputten Haus am Ende einer kaputten Straße lebt?« Andere erklärten es damit, dass er nie Eltern gehabt habe. Wieder andere meinten, in seinen Adern fließe Feenblut, deshalb könne er sich nicht freuen.
Er war zweifellos ein unglücklicher Junge. Wenn er ein neues Hemd bekam, riss er ein Loch hinein. Schenkte man ihm eine Süßigkeit, ließ er sie in den Dreck fallen.
Einige sagten, er sei unter einem schlechten Stern geboren, ein Fluch laste auf ihm und ein Dämon folge seinem Schatten. Anderen tat er leid, aber nicht so leid, dass sie ihm geholfen hätten.
Eines Tages ging ein Kessler die Straße zu Jax’ Haus entlang, und das war seltsam, denn die Straße war kaputt, und niemand benützte sie.
»Heda, Junge!«, rief der Kessler und blieb auf seinen Stock gestützt stehen. »Kannst du einem alten Mann etwas zu trinken geben?«
|796| Jax kam mit einem Krug Wasser heraus. Der Kessler trank und fasste den Jungen näher ins Auge. »Du siehst nicht glücklich aus, mein Sohn. Was fehlt dir?«
»Nichts«, erwiderte Jax. »Aber ich finde, man kann nur
über
etwas glücklich sein, und dieses Etwas habe ich nicht.«
Er klang so gefasst und schicksalsergeben, dass es dem Kessler ganz weh ums Herz wurde. »Ich habe in meinem Ranzen ganz gewiss etwas, das dich glücklich macht«, sagte er. »Was meinst du?«
»Wenn du mich glücklich machen kannst, danke ich dir vielmals. Doch habe ich kein Geld und kann mir auch nirgendwo welches leihen.«
»Das ist allerdings ein Problem«, sagte der Kessler. »Schließlich lebe ich von meinen Geschäften.«
»Wenn du in deinem Ranzen etwas findest, das mich glücklich macht, gebe ich dir dafür mein Haus. Es ist alt und kaputt, aber trotzdem etwas wert.«
Der Kessler blickte zu dem großen alten Haus auf, das fast schon eine Villa war. »Stimmt«, sagte er.
»Und wenn du mich nicht glücklich machen kannst?«, fragte Jax und sah den Kessler ernst an. »Gibst du mir dann den Ranzen auf deinem Rücken, den Stock in deiner Hand und den Hut auf deinem Kopf?«
Der Kessler wettete für sein Leben gern und wusste, was eine gute Wette war. Außerdem führte er in seinem Ranzen Schätze aus aller Welt mit sich, damit konnte er gewiss auch einen kleinen Jungen beeindrucken. Er stimmte also zu und besiegelte die Wette durch einen Händedruck.
Als Erstes holte er ein Säckchen mit Murmeln in allen Farben des Sonnenlichts heraus. Doch sie machten Jax nicht glücklich. Es folgte ein Fangbecherspiel mit demselben Ergebnis.
»Ein Fangbecherspiel macht doch niemanden glücklich«, brummte Marten. »Es ist das dümmste Spiel der Welt. Kein vernünftiger Mensch spielt es gern.«
Der Kessler durchsuchte das erste Fach seines Ranzens. Es war mit Dingen gefüllt, die das Herz jedes normalen Jungen hätten höher schlagen lassen: Würfeln, Marionetten, einem Klappmesser und einem Gummiball. Doch nichts davon machte Jax glücklich.
|797| Der Kessler durchsuchte also das zweite Fach. Es enthielt ungewöhnlichere Dinge: einen Spielzeugsoldaten, der marschierte, wenn man ihn aufzog, einen Kasten mit bunten Farben und vier verschiedenen Pinseln, ein Rätselbuch und ein Stück Eisen, das vom Himmel gefallen war.
Den ganzen Tag bis spät in die Nacht holte der Kessler Dinge aus seinem Ranzen, und allmählich wurde ihm unbehaglich zumute. Seinen Stock zu verlieren kümmerte ihn nicht, doch mit seinem Ranzen verdiente er seinen Lebensunterhalt, und sein Hut war ihm sehr ans Herz gewachsen.
Er sah schließlich ein, dass er auch noch das dritte Fach öffnen musste. Es war klein und enthielt nur drei Gegenstände, Dinge, die er nur besonders wohlhabenden Kunden zeigte. Jedes war mehr wert als ein baufälliges Haus, doch wollte er lieber eins davon verlieren als den ganzen Ranzen und seinen Hut obendrein.
Er schickte sich an, das Fach zu öffnen, da streckte Jax die Hand aus. »Was ist das?«
»Das ist eine Brille«, antwortete der
Weitere Kostenlose Bücher