Die Furcht des Weisen / Band 1
darauf wiederkommen. Aber die Blutsauger …«
Der Chronist nickte. »Sie sind anders«, sagte er grimmig. Dann zitierte er: »›Wenn’s ginge, nähmen den Regen sie dir. Gibt’s Gold nicht, nehmen sie Korn dafür.‹«
Kvothe lächelte schmallippig und fuhr fort:
Hast du kein Korn, nehmen sie dir die Kuh.
Sie nehmen dein Brennholz und die Joppe dazu.
Hast du eine Katze, nehmen sie deine Maus.
Und am Ende nehmen sie dir das Haus.
»Alle hassen sie«, stimmte der Chronist düster zu. »Und die Adligen hassen sie noch einmal so sehr.«
»Das kann ich mir nur schwer vorstellen«, sagte Kvothe. »Ihr solltet hören, wie man hier über sie spricht. Wenn der letzte Steuereintreiber nicht einen schwerbewaffneten Begleiter dabeigehabt hätte, hätte er den Ort kaum lebend verlassen.«
Der Chronist lächelte schief. »Und Ihr hättet hören sollen, wie mein Vater über diese Leute sprach. Dabei bekam er in zwanzig Jahren nur zweimal Besuch von ihnen. Er sagte, Heuschrecken und dann noch eine Feuersbrunst wären ihm lieber als die Blutsauger des Königs.« Der Chronist blickte zur Eingangstür des Schankraums. »Sie sind zu stolz, um sich helfen zu lassen?«
»Noch stolzer«, sagte Kvothe. »Je größer die Armut, desto mehr ist der Stolz wert. Ich kenne das Gefühl. Ich hätte nie einen Freund um Geld gebeten. Eher wäre ich verhungert.«
»Und Geld leihen?«, fragte der Chronist.
»Wer hat dieser Tage schon Geld zu verleihen?«, fragte Kvothe bitter. »Die meisten Menschen werden im kommenden Winter hungern. |793| Und wenn noch eine dritte Steuer erhoben wird, werden die Bentleys zum Ende des Winters nur noch eine Decke zum Schlafen haben und ihr Saatgut essen. Vorausgesetzt, sie haben bis dahin nicht auch noch ihr Haus verloren …«
Er sah auf seine Hände hinab, die auf dem Tisch lagen, und schien überrascht, dass eine davon zur Faust geballt war. Langsam öffnete er sie und drückte beide Hände mit gespreizten Fingern auf die Tischplatte. Dann sah er den Chronisten mit einem reuigen Lächeln an. »Wusstet Ihr, dass ich nie Steuern gezahlt habe, bevor ich hierher kam? Die Edema haben in der Regel keinen Grundbesitz.« Er zeigte auf den Schankraum. »Ich konnte mir nie vorstellen, wie schrecklich das ist. Wenn so ein aufgeblasener Wicht mit einem Buch daherkommt und einem für das Privileg, etwas zu besitzen, Geld abknöpfen will.«
Kvothe bedeutete dem Chronisten, die Feder aufzunehmen. »Inzwischen verstehe ich es viel besser. Ich kenne die finsteren Wünsche, die eine Gruppe von Männern dazu bringen, den Steuereintreibern an der Straße aufzulauern und sie in offener Auflehnung gegen den König zu töten.«
|794| Kapitel 86
Die kaputte Straße
W ir beendeten unsere Suche auf der Nordseite der Straße des Königs und fingen im Süden an. Die Tage unterschieden sich oft nur durch die Geschichten, die wir uns abends am Feuer erzählten. Sie handelten von Oren Velciter, Laniel Wiederjung und Illien, von hilfsbereiten Schweinehirten und glücklichen Kesslersöhnen, Dämonen und Feen, Rätselspielen und Untoten.
Die Edema Ruh kennen alle Geschichten der Welt, und ich bin ein Edema durch und durch. In meiner Kindheit haben meine Eltern jeden Abend am Feuer Geschichten erzählt, und ich bin mit Geschichten in Form von Pantomimen, Liedern und Bühnenstücken aufgewachsen.
Es war daher nicht weiter verwunderlich, dass ich die Geschichten, die Dedan, Hespe und Marten erzählten, schon kannte. Nicht in allen Einzelheiten, aber in ihrem groben Verlauf. Ich kannte zumindest die Handlung und ihr Ende.
Versteht mich nicht falsch: Ich hörte ihnen trotzdem gerne zu. Geschichten müssen nicht neu sein, um einem Freude zu bereiten. Einige sind wie alte Freunde, andere gehören wie Brot zu den Grundnahrungsmitteln.
Eine Geschichte, die ich nicht kenne, ist eine kostbare Seltenheit. Nach zwanzigtägiger Suche im Eld wurde ich mit einer solchen belohnt.
|795| »Vor langer Zeit lebte in einem fernen Land ein Junge namens Jax«, begann Hespe, als wir nach dem Abendessen am Feuer saßen. »Dieser Jax verliebte sich in den Mond. Er war ein sonderbarer, nachdenklicher Junge und lebte allein in einem alten Haus am Ende einer kaputten Straße. Er …«
Dedan fiel ihr ins Wort. »Warum
kaputte
Straße?«
Hespe presste die Lippen zusammen. Sie wirkte nicht wirklich böse, schien aber schon einmal ein entsprechendes Gesicht vorzubereiten, um es im Bedarfsfall schnell zur Hand zu haben. »Weil es eben so heißt.
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