Die Furcht des Weisen / Band 1
einer Mischung aus Ärger und Belustigung an. Dann grinste er und machte mit der hohlen Hand eine eindeutige Bewegung zwischen den Beinen. »Du weißt schon«, sagte er völlig unbefangen. »Eben Eier.«
Hinter seinem Rücken verdrehte Hespe die Augen und schüttelte den Kopf.
|800| »Aha«, sagte Tempi und nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte. »Und warum sucht der Maer da nach Haaren?«
Auf seine Worte folgte eine kurze Pause, dann erschütterte eine Lachsalve das Lager. In ihr entlud sich die ganze aufgestaute Spannung, die fast zum Streit geführt hätte. Hespe lachte, bis sie keine Luft mehr bekam, und hielt sich den Bauch. Marten wischte sich Tränen aus den Augen. Dedan lachte so heftig, dass er nicht mehr stehen konnte. Zuletzt hockte er auf dem Boden und stützte sich mit den Händen ab.
Danach saßen wir schweratmend um das Feuer und grinsten wie die Idioten. Die Spannung, die mit Händen zu greifen gewesen war, hatte sich zum ersten Mal seit Tagen gelöst. Erst jetzt merkte ich, dass Tempi mich ansah. Er rieb behutsam Daumen und Zeigefinger aneinander. Weil er froh war? Nein.
Zufrieden.
Ich erwiderte seinen Blick, und mir dämmerte ein Verdacht. Tempis Miene war wie immer vollkommen unbewegt. Als lege er es förmlich darauf an. Er wirkte schon fast selbstgefällig.
»Kannst du jetzt weitererzählen?«, fragte Dedan. »Ich wüsste zu gern, ob der Junge sein Ziel erreicht.«
Hespe lächelte ihn an. Sie hatte Dedan seit Tagen nicht mehr so aufrichtig angelächelt. »Ich habe den Faden verloren. Die Geschichte hat einen Rhythmus wie ein Lied. Ich kann sie von Anfang an erzählen, aber wenn ich in der Mitte anfange, bringe ich alles durcheinander.«
»Erzählst du sie morgen noch einmal, wenn ich verspreche, den Mund zu halten?«
Hespe nickte. »Wenn du es versprichst, ja.«
|801| Kapitel 87
Lethani
A m folgenden Tag machte ich mich zusammen mit Tempi auf den Weg nach Crosson, um einzukaufen. Wir würden den ganzen Tag unterwegs sein, aber weil wir nicht bei jedem Schritt nach Spuren suchen mussten, kam es uns vor, als flögen wir die Straße entlang.
Unterwegs tauschten wir Wörter aus. Ich lernte die Wörter für Traum, Geruch und Knochen. Außerdem erfuhr ich, dass es im Ademischen verschiedene Wörter für Eisen und Schwerteisen gibt.
Anschließend versuchte Tempi mir eine Stunde lang erfolglos zu erklären, was es bedeutete, wenn er sich mit den Fingern über der Augenbraue rieb. Die Geste schien einem Achselzucken nahe zu kommen, war aber offenbar nicht dasselbe. Bedeutete sie vielleicht Gleichgültigkeit? Unsicherheit?
»Empfindet man das, wenn man zwischen etwas wählen muss?«, versuchte ich es erneut. »Wenn einem jemand einen Apfel oder eine Pflaume anbietet?« Ich hielt beide Hände vor mich hin. »Und man sich nicht entscheiden kann?« Ich drückte die Finger aneinander und dann an die Augenbrauen. »Dieses Gefühl?«
Tempi schüttelte den Kopf. »Nein.« Er blieb kurz stehen und ging dann weiter. Mit der linken Hand machte er die Geste für
so tun als ob
. »Was ist eine Pflaume?«
Aufpassen.
Ich sah ihn verwirrt an. »Was?«
»Was bedeutet Pflaume?« Er bewegte wieder die Hände.
Sehr ernst. Aufpassen.
Ich wandte meine Aufmerksamkeit unserer Umgebung zu und hörte sofort, was er meinte: im Unterholz bewegte sich etwas.
|802| Die Geräusche kamen von der südlichen Seite der Straße, der Seite, auf der wir noch nicht gesucht hatten. Von den Banditen. Aufregung und Angst bemächtigten sich meiner. Ob sie uns angriffen? In meinem schäbigen Mantel mochte ich kein besonders verlockendes Opfer sein, dafür trug ich meine Laute in ihrem teuren Kasten auf dem Rücken.
Tempi hatte für unterwegs wieder seine eng anliegenden roten Söldnerkleider angezogen. Ob das einen Banditen mit einem Langbogen abschreckte? Oder sah ich aus wie ein betuchter Minnesänger, der sich einen Adem als Leibwächter leisten konnte? Vielleicht hatten die Banditen ja auf Leute wie uns gewartet.
Sehnsüchtig dachte ich an den Pfeilfänger, den ich Kilvin verkauft hatte. Kilvin hatte recht. Mit einem solchen Pfeilfänger konnte man viel Geld verdienen. Ich hätte gegenwärtig alles Geld dafür gegeben, das ich in der Tasche hatte.
Mit einigen Handbewegungen bedeutete ich Tempi, dass ich ihn verstanden hatte.
So tun als ob. Zustimmung.
»Eine Pflaume ist eine süße Frucht«, sagte ich und suchte die Bäume am Straßenrand nach verräterischen Hinweisen ab.
Sollten wir uns im Wald verstecken oder so
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