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Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag

Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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Fingern, ein Muster von Erhebungen und Vertiefungen. Ich strich mit den Händen über den Deckel und fühlte ein ähnliches Muster.
    »Du hast recht«, sagte Meluan leise. »Er ist wie ein Kind, das ein Geschenk zur Wintersonnenwende bekommt.«
    »Das Beste hast du noch nicht gesehen«, erwiderte Alveron. »Warte, bis er erst richtig anfängt. Der Kerl schlägt mit seinem Verstand zu wie mit einem eisernen Hammer.«
    »Wie öffnet man die Kassette?«, fragte ich und wendete sie in den Händen hin und her. Ich spürte, wie sich drinnen etwas bewegte, doch sah ich weder Scharniere noch einen Deckel, nicht einmal eine Naht, die einen Deckel hätte anzeigen können. Was ich in Händen hielt, war allem Anschein nach aus einem einzigen Stück Holz gefertigt. Doch wusste ich, dass es sich um eine Kassette handeln musste, denn der Gegenstand fühlte sich so an. Er verlangte danach, geöffnet zu werden.
    »Das wissen wir nicht«, sagte Meluan. Sie schien noch etwas hinzufügen zu wollen, aber ihr Mann brachte sie sanft zum Schweigen.
    »Was ist in der Kassette?« Ich kippte sie und spürte, wie der Inhalt sich verschob.
    »Das wissen wir nicht«, wiederholte Meluan.
    Schon das Holz war interessant. Es war so dunkel, dass es Roah hätte sein können, hatte aber eine tiefrote Maserung. Außerdem verströmte es einen aromatischen Duft. Es roch ganz schwach nach … irgendetwas. Ich kannte den Geruch, konnte ihn aber nicht benennen. Ich beugte mich mit dem Gesicht darüber und atmete ihn tief durch die Nase ein. Das Holz roch fast wie Zitrone, so vertraut, es war zum Verrücktwerden. »Was ist das für ein Holz?«
    Das Schweigen der anderen genügte mir als Antwort.
    Ich hob den Kopf. »So besonders viele Anhaltspunkte habt Ihr nicht für mich.« Ich lächelte, um den Worten ihre Schärfe zu nehmen.
    Alveron beugte sich vor. »Du musst zugeben«, sagte er mit kaum verhohlener Begeisterung, »das ist ein wunderbares Rätsel. Du hastschon einmal gezeigt, wie gut du im Raten bist.« Seine Augen glitzerten grau. »Was rätst du also diesmal?«
    »Es handelt sich um ein Erbstück«, sagte ich ruhig. »Etwas sehr Altes …«
    »Auf wie alt schätzt du es?«, wollte Alveron gespannt wissen.
    »So um die dreitausend Jahre«, sagte ich. »Mehr oder weniger.« Meluan erstarrte und sah mich überrascht an. »Ihr habt ein ähnliches Alter geschätzt, nehme ich an?«
    Sie nickte stumm.
    »Die Ornamente haben sich gewiss durch die langen Jahre des Gebrauchs abgenützt.«
    »Ornamente?«, fragte Alveron und beugte sich vor.
    »Sie sind kaum zu sehen«, sagte ich und schloss die Augen. »Aber ich spüre sie.«
    »Ich habe nichts gespürt.«
    »Ich auch nicht«, sagte Meluan. Sie klang ein wenig gekränkt.
    »Ich habe besonders empfindliche Hände«, sagte ich offen. »Die brauche ich für meine Arbeit.«
    »Für die Magie?«, fragte Meluan und unterdrückte einen Anflug kindlicher Scheu.
    »Und für die Musik«, sagte ich. »Ihr erlaubt?« Sie nickte, und ich nahm ihre Hand und drückte sie ganz leicht auf die obere Fläche der Kassette. »Da. Spürt Ihr es?«
    Sie runzelte die Stirn vor Anstrengung. »Vielleicht ein bisschen.« Sie nahm ihre Hand wieder weg. »Und du bist sicher, dass es sich um Ornamente handelt?«
    »Sie sind für einen Zufall zu regelmäßig. Wie kann es sein, dass Ihr sie bisher noch nicht bemerkt habt? Ist in Euren Geschichtsbüchern nicht davon die Rede?«
    Meluan sah mich entgeistert an. »Es würde niemandem einfallen, darüber zu schreiben. Ich sagte doch, es handelt sich um das geheimste aller Geheimnisse.«
    »Ich will es auch spüren«, sagte Alveron. Ich führte seine Finger über die Ornamente. Er runzelte die Stirn. »Nichts. Offenbar sind meine Finger zu alt. Handelt es sich vielleicht um Buchstaben?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Es ist ein durchgehendes Muster, wie einRollsiegel. Allerdings wiederholt es sich nicht, sondern wechselt …« Ich hatte eine Idee. »Es könnte sich um einen Geschichtenknoten der Yller handeln.«
    »Kannst du so etwas lesen?«, fragte Alveron.
    Ich fuhr mit den Fingern über das Holz. »Ich kann nicht einmal genug Yllisch, um einen einfachen Knoten zu lesen, selbst wenn ich den Faden in den Fingern hielte.« Ich schüttelte den Kopf. »Außerdem hätten die Knoten sich in den vergangenen dreitausend Jahren geändert. Ich kenne allerdings an der Universität einige Leute, die das vielleicht übersetzen könnten.«
    Alveron sah Meluan an, aber sie schüttelte entschieden den Kopf.

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