Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
juckte mir in den Augen. Ich versuchte nicht daran zu denken, dass er größtenteils aus pulverisierter Pferdescheiße bestand, verfeinert mit je einer Prise faulem Fisch, Kohlenrauch und Urin.
Wenn ich durch die Nase atmete, überfiel mich der Gestank. Atmete ich aber durch den Mund, so hatte ich ihn auf der Zunge, und der Staub drang mir in die Lunge und brachte mich zum Husten. Ich hatte es nicht so schlimm in Erinnerung. War es hier immer schon so dreckig gewesen? Hatte es hier immer schon so gestunken?
Nachdem ich eine halbe Stunde lang danach gesucht hatte, fand ich schließlich das ausgebrannte Gebäude mit dem Kellergewölbe. Ich ging die Treppe hinunter und den langen Korridor entlang und betrat einen klammen Raum. Trapis war immer noch da, barfuß und in dem gleichen zerlumpten Gewand wie eh und je, und kümmerte sich in dem kalten, dunklen Zimmer im Souterrain um die Kinder, für die es keine Hoffnung mehr gab.
Er erkannte mich. Aber nicht so, wie andere Leute mich erkannten – als den jungen Helden aus den Geschichten, die man gehört hatte. Für derlei Dinge hatte Trapis keine Zeit. Nein, er erinnerte sich an mich als den verdreckten, halb verhungerten Jungen, der in einer Winternacht fieberkrank und weinend seine Treppe herabgestürzt war. Und dafür liebte ich ihn umso mehr.
Ich gab ihm so viel Geld, wie er von mir annahm: fünf Talente. Ich wollte ihm mehr geben, aber er lehnte ab. Wenn er zu viel Geld ausgab, so sagte er, würde das nur ungute Aufmerksamkeit erregen. Die Kinder und er seien am sichersten, wenn sie niemand bemerkte.
Ich beugte mich seiner Weisheit und verbrachte den Rest des Tages damit, ihm zu helfen. Ich pumpte Wasser und holte Brot. Ich untersuchte die Kinder, ging zu einer Apotheke und brachte ihnen ein paar Mittel, die ihnen helfen würden.
Zu guter Letzt kümmerte ich mich auch noch um Trapis selbst, jedenfalls so weit er es zuließ. Ich rieb seine schmerzenden, geschwollenen Füße mit Kampfer und Mutterblatt ein und schenkte ihm Stützstrümpfe und ein Paar gute Schuhe, damit er nicht mehr barfuß in dem feuchten Keller umhergehen musste.
Am späten Nachmittag trudelten nach und nach die zerlumpten Kinder in dem Keller ein. Sie kamen, weil sie auf etwas zu essen hofften oder sich verletzt hatten oder einen sicheren Schlafplatz suchten. Sie alle beäugten mich argwöhnisch. Meine Kleider waren sauber und neu. Ich gehörte nicht zu ihnen. Ich war nicht willkommen.
Wenn ich noch länger geblieben wäre, hätte es Schwierigkeiten gegeben. Zumindest wäre meine Anwesenheit einigen Straßenkindern so unangenehm gewesen, dass sie nicht mehr dort übernachtet hätten. Und so verabschiedete ich mich von Trapis und ging. Manchmal ist Weggehen das Einzige, was man tun kann.
Da mir noch ein paar Stunden blieben, bis sich die Wirtshäuser füllen würden, kaufte ich mir ein Blatt cremefarbenes Schreibpapier und einen passenden Umschlag aus schwerem Pergament. Es war allererste Qualität, besser als alles, was ich je besessen hatte.
Anschließend suchte ich mir ein stilles Café und bestellte mir eine Schokolade und ein Glas Wasser. Ich legte das Papier auf meinem Tisch zurecht und zog Feder und Tinte aus meinem Shaed. Dann schrieb ich in eleganter Schreibschrift:
Ambrose,
das Kind ist von Dir. Du weißt das so gut wie ich.
Ich fürchte, dass meine Familie mich verstoßen wird. Wenn Du Dich nicht wie ein Gentleman verhältst und Deinen Verpflichtungen nachkommst, werde ich zu Deinem Vater gehen und ihm alles erzählen.
Versuche nicht, mich umzustimmen. Ich bin fest entschlossen.
Ich setzte keinen Namen darunter, sondern nur eine einzelne Initiale, bei der es sich um ein verschnörkeltes »R« handeln konnte oder um ein etwas zittriges »B«.
Dann tunkte ich eine Fingerspitze in mein Glas und ließ einige Wassertropfen auf das Blatt fallen. Sie ließen das Papier ein wenig aufquellen und die Tinte ein wenig verschmieren, ehe ich sie wieder abtupfte. Sie sahen aus wie Tränen.
Einen letzten Wassertropfen ließ ich auf die Initiale fallen und machte sie damit noch unkenntlicher. Jetzt hätte es auch ein »F«, »P« oder »E« sein können. Vielleicht sogar ein »K«. Im Grunde hätte es jeder Buchstabe sein können.
Dann faltete ich das Blatt zusammen, steckte es in den Umschlag,ging zu einer Lampe, brachte daran etwas Siegelwachs zum Schmelzen und verschloss den Umschlag mit einem ordentlichen Klacks davon. Auf die Vorderseite schrieb ich:
Ambrose
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