Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
leise die Melodie des Liedes, das ich für sie geschrieben hatte. Ich hätte mich geschmeichelt fühlen können, musste aber unablässig daran denken, dass ich blind und splitternackt im Reich der Fae stand und keine Ahnung hatte, was hier vorging.
Eine Handvoll Motten war auf Felurian gelandet und saß auf Handgelenken, Hüften, Schultern und Schenkeln. Sie ermöglichten mir eine ungefähre Vorstellung ihrer Bewegungen. Wenn ich hätte raten müssen, hätte ich gesagt, dass Felurian aus Bäumen und unter Büschen oder Steinen irgendwelche Dinge hervorzog. Ein warmer Luftzug strich seufzend über die Lichtung. Es war seltsam tröstlich, ihn auf der nackten Haut zu spüren.
Nach etwa zehn Minuten kam Felurian wieder und küsste mich. In den Armen hielt sie etwas Weiches und Warmes.
Wir kehrten denselben Weg zurück, den wir gekommen waren. Die Motten verloren nach und nach das Interesse an uns, und unsere Umgebung versank wieder in der Nacht. Nachdem wir eine endlos lange Zeit gegangen waren, sah ich durch eine Lücke zwischen den Bäumen vor uns Licht. Es waren nur die Sterne, doch im ersten Moment schienen sie zu funkeln wie ein Vorhang aus glitzernden Diamanten.
Ich wollte durch das Licht hindurchgehen, doch Felurian hielt mich am Arm fest. Stumm hieß sie mich an der Stelle hinsitzen, an der die ersten schwachen Strahlen auf den Boden fielen.
Dann trat sie behutsam zwischen den Strahlen hindurch. Sie mied das Licht, als könnte sie sich daran verbrennen. Als sie mitten zwischen ihnen stand, setzte sie sich mit gekreuzten Beinen mir gegenüber auf den Boden. Was sie vorhin gesammelt hatte, hielt sie im Schoß. Ich konnte nur eine gestaltlose, dunkle Masse erkennen.
Felurian streckte die Hand aus, ergriff einen dünnen Strahl des Sternenlichts und zog ihn zu der dunklen Masse in ihrem Schoß.
Meine Überraschung wäre noch größer gewesen, hätte sie es nicht mit der größten Selbstverständlichkeit der Welt getan. Im Dämmerlicht sah ich ihre Hände eine Bewegung machen, die mir vertraut vorkam. Dann streckte sie die Hand erneut aus und packte mit Daumen und Zeigefinger einen zweiten Strahl.
Sie zog ihn genauso mühelos wie den ersten zu sich und richtete ihn auf die dunkle Masse. Wieder kam mir die Bewegung bekannt vor, doch hätte ich nicht sagen können, woher.
Felurian begann leise vor sich hin zu summen, während sie den nächsten Strahl ergriff. Mit jedem Strahl fiel ein wenig mehr Licht auf den Gegenstand in ihrem Schoß. Er sah aus wie ein dickes schwarzes Tuch. Jetzt fiel mir auch ein, an wen Felurian mich erinnerte: an meinen Vater, wenn er nähte. Nähte sie im Licht der Sterne?
Sie nähte mit dem Licht der Sterne. Die Erkenntnis überkam mich ganz plötzlich.
Shaed
bedeutete Schatten. Felurian hatte irgendwie einen Arm voll Schatten mitgebracht, den sie jetzt mit Sternenlicht vernähte. Sie nähte mir einen Mantel aus Schatten.
Das klang abwegig. Doch Felurian nahm völlig unbekümmert den nächsten Strahl und zog ihn in ihren Schoß. Ich schob meine Zweifel beiseite. Nur ein Narr zweifelt an dem, was er mit eigenen Augen sieht.
Außerdem schienen über mir Sterne, die ich nicht kannte, und ich saß neben einer Märchengestalt, die seit tausend Jahren jung und schön war, die mein Herz mit einem Kuss anhalten und mit Schmetterlingen sprechen konnte. Warum sollte ich mir da wegen ein paar Lichtstrahlen Gedanken machen?
Nach einer Weile rückte ich näher an Felurian heran, um ihr besser zusehen zu können. Schließlich setzte ich mich neben sie, und sie lächelte und gab mir einen flüchtigen Kuss.
Ich stellte einige Fragen, aber ihre Antworten waren entweder unverständlich oder vollkommen desinteressiert. Von den Gesetzen der Sympathie, der Sygaldrie oder des Alar hatte sie keine Ahnung, und sie fand es überhaupt nicht merkwürdig, mit den Händen voll Schatten im Wald zu sitzen. Zuerst war ich gekränkt, dann wurde ich schrecklich eifersüchtig.
Ich dachte daran, wie ich in Felurians Laube den Namen des Windes gefunden hatte. Wie mir gewesen war, als sei ich zum ersten Mal ganz wach, und wie mich dieses Bewusstsein eiskalt durchströmt hatte.
Meine Laune besserte sich für einen Augenblick, dann empfand ich meinen Verlust nur umso deutlicher. Mein schlummernder Geist war wieder eingeschlafen. Ich wandte meine Aufmerksamkeit erneut Felurian zu und dem, was sie tat.
Wenig später stand sie auf und half auch mir auf die Beine. Heiter vor sich hin summend nahm sie meinen Arm, und wir
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