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Die Gabe der Amazonen

Die Gabe der Amazonen

Titel: Die Gabe der Amazonen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Kiesow
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Gefahr.
    Mädchen drehte sich langsam zu uns um. Sie atmete schwer. Ihr Gesicht, von Tränen und Erde verschmiert, war ernst, aber nicht von Schmerz verzerrt.
    »Viburn, laß die beiden los«, sagte sie leise. »Ich war unbeherrscht, das tut mir leid. Aber mit den Kirschen hat das nichts zu tun, die Feilscher tragen daran keine Schuld. Nein, ich muß ihnen eigentlich dankbar sein.«
    Viburn gab seine beiden Gefangenen frei. Kaum hatte Nipper seinem Gefährten auf die Beine geholfen, da rannten die Feilscher los, als säße ihnen der Namenlose im Nacken. Keiner von uns versuchte, sie aufzuhalten.
    »Von den Feilschern droht uns keine Gefahr«, sagte Mädchen. »Mein Volk treibt gelegentlich Handel mit ihnen. Sie achten uns und beabsichtigen nur an guten Geschäften, nicht an Streitigkeiten teilzunehmen.«
    »Dein Volk?« fragte Viburn. »Du erinnerst dich, nicht wahr? Du bist eine Amazone?«
    »Ja, ich erinnere mich an alles – an jeden Tag in meinem Leben. Ich komme aus Kurkum.«
    »Wie ist dein Name?« fragte Elgor. »Von jetzt an können wir dich endlich bei deinem richtigen Namen rufen.«
    Mädchen nahm sich Zeit für ihre Antwort. Zunächst sah sie uns alle der Reihe nach an. Es lag keine Freude in diesem Blick – sorgenvoller Ernst, eine tiefe Rührung vielleicht, aber keine Spur von Fröhlichkeit. »Ich werde euch meinen Namen später nennen. Es ist kein guter Name, und ihr werdet ihn nicht gern vernehmen.« Sie unterbrach sich, um mit dem Mantelzipfel Schmutz von Stirn und Wangen zu wischen. Endlich setzte sie von neuem an: »Seit ein paar Tagen schon spürte ich, daß mein Gedächtnis sich regte. Ich brauchte nur die Augen zu schließen, und ich sah Folgen von bunten Bildern, Gesichtern und Gestalten. In der Stille der Nacht hörte ich Bruchstücke von Gesprächen und immer wieder den einen Namen, von dem ich jetzt weiß, daß es der meine ist. All diesen Erinnerungsfetzen fehlte der Zusammenhang. Da ich vor meinem inneren Auge fast nur Frauen sah, zumeist in Rüstung, häufig beim Kampf, wurde mir allmählich klar, daß ich einmal zu den Amazonen gehört haben mußte. Diese Ahnung wurde heute zur Gewißheit: Ihr erinnert euch an die beiden Amazonen, die so plötzlich aus dem Nebel auftauchten? Ich erkannte sie. Eine von ihnen, Bila mit Namen, war meine engste Vertraute in der Kinderzeit und später meine Partnerin bei vielen Kampfübungen. ›Das ist Bila!‹ war mein einziger Gedanke, während die beiden auf mich zusprengten. Ich war so überrascht, daß ich mich nicht bewegen konnte. Offenbar hat auch Bila mich erkannt – und ein wenig von ihrer Zuneigung bewahrt, trotz allem«, fügte sie leiser hinzu, »denn sie lenkte ihren Säbel an meinem Kopf vorbei. Hoffentlich wird sie dafür nicht zur Rechenschaft gezogen. Sie hat meinen Kopf gerettet und kann leicht ihren eigenen dadurch verlieren.« Mädchen verstummte.
    »So erzähl doch weiter«, drängte Viburn voller Ungeduld. »Du hast also diese Bila erkannt, konntest dich aber trotzdem noch nicht an deine Vergangenheit erinnern?«
    »Nein, aber in mir stiegen düstere Gefühle auf. Nun konnte es keinen Zweifel mehr daran geben, daß ich einmal zu eben jenem Amazonenstamm gehört haben muß, der nun Jagd auf uns macht. Auch konnte ich mich nicht in Frieden von diesem Stamm getrennt haben, denn sonst wäre Bila nicht einfach davongeritten. Viburn, ich habe vor kurzem zu dir gesagt, ich würde mich freuen, wenn sich herausstellte, daß ich eine Amazonenkriegerin wäre. Nun, nach der Begegnung mit den beiden Reiterinnen wandelte sich meine Hoffnung in Angst: Ich fürchtete, daß ich euer aller Leben in Gefahr bringen würde. Eine Ausgestoßene hat von den Amazonen sicher nichts Gutes zu erwarten. Der Zorn der Kriegerinnen würde vor meinen Begleitern nicht haltmachen, so sagte ich mir. Ich nahm mir vor, euch bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit zu verlassen. Die Gelegenheit kam aber bisher nicht.« Ihr stiegen Tränen in die Augen. Mit einer ärgerlichen, unwirschen Bewegung wischte sie sie fort. »Entschuldigt die kindische Schwäche! Das ist würdelos und wird nicht wieder geschehen.«
    »Na, na, na!« brummelte Larix gutmütig. »Mag sein, daß du eine Amazone bist – deswegen mußt du doch nicht aufhören, ein Mensch zu sein und Gefühle zu haben ...«
    Sie hob abwehrend die Hand. »Überlaß das mir! Du wirst sowieso bald anders über mich denken und jedes freundliche Wort bereuen, das du zu mir gesprochen hast.«
    Viburn schaltete sich ein.

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