Die Gabe der Amazonen
Seine Stimme klang gereizt. »Du solltest es uns überlassen, zu wem wir freundlich sein wollen und zu wem nicht. Wenn die Amazonen dich tatsächlich ausgestoßen haben, heißt das nicht, daß du auf der Welt keine Freunde mehr hast. Jetzt erzähl uns endlich, woran du dich erinnerst, bitte!«
Mädchen sprach so leise, daß wir Mühe hatten, sie zu verstehen: »Als ich auf die Kirschen biß, als ich ihren Geschmack auf der Zunge spürte, waren plötzlich alle Erinnerungen wieder da. Zuerst erkannte ich nur den Geschmack der Früchte. Die Feilscher haben uns hin und wieder solche Kirschen nach Kurkum geschickt. Sie sind sehr teuer, weil sie im Winter reifen ... Das einzige frische Obst weit und breit ...« Sie schloß die Augen. »Dann plötzlich war alles wieder da, alles mit einem Schlag. Ich wußte, wer ich bin, wo ich aufwuchs, wie ich gelebt hatte, was ich tat. Freundinnen und Feinde sah ich, unsere Burg, den Palas und großen Turm, die Ställe mit den Pferden, die Jagdfalken, die Rüstkammern, den Thronsaal, meine Schwester ... All das stieg gleichzeitig in mir auf. Gerade so, als hätte man mir die Augen und Ohren verbunden, mich mitten auf einen Jahrmarkt geführt und dann das Tuch mit einem Ruck weggerissen ...«
Während Mädchen sprach, waren zehn oder mehr Feilscher die Straßen entlanggekommen. In achtungsvoller Entfernung hatten sie sich zu einem Halbkreis geschart und schauten zu uns herüber mit neugierigen, aber freundlichen Mienen. Wir alle hatten die Kleinen bemerkt, aber keiner von uns schenkte ihnen besondere Beachtung. Wir waren zu sehr von Mädchens Geschichte gefesselt.
Ihr Bericht, den nicht einmal Larix durch eine Bemerkung zu stören wagte, dauerte sehr lange. Wir erfuhren alles über Kindheit und Reifezeit einer Amazonenkriegerin. Mädchen schilderte uns Mutproben, waghalsig und makaber zugleich, Schwertexerzitien mit hölzernen, stumpfen und scharfen Waffen, freiwillige Folterungen, die Leib und Seele abhärten sollten. Sie beschrieb das Stammesleben, das keine Gnade mit den Schwachen kannte, aber vom blinden Vertrauen der Kriegerinnen getragen wurde. Mädchen sprach auch von der Stellung der Königin, der vollkommenen Herrscherin, die doch zugleich die beflissenste Dienerin der Stammestraditionen und -gebote sein mußte, die dem Rat der Kriegerinnen zwar jeden Befehl erteilen konnte und sich doch die Ergebenheit des Rates immer wieder aufs neue durch Worte und Taten sichern mußte.
Mädchen erzählte anschaulich und spannend, manchmal fast zu ausführlich, aber ihr Bericht klang merkwürdig in meinen Ohren, und nach einer Weile hatte ich herausgefunden, was mich störte: Mädchen sprach viel von den Amazonen oder den Kriegerinnen, doch seltener sagte sie wir, und niemals gebrauchte sie das Wort ich. Wir hörten die Geschichte einer Beobachterin, einer Fremden, die nicht Teil des Volkes war, von dem sie erzählte. Ich unterbrach Mädchens Redefluß durch ein Räuspern und fragte: »Warum redest du nicht von dir? Was ist das für ein Gefühl, Kriegerin in Kurkum zu sein?«
Mädchen sah mich fast erschrocken an, dann senkte sie den Kopf. »Ich war keine Kriegerin.«
»Nein ...?«
»Nein, ich war ihre Königin. Ich bin Yppolita.«
Das verschlug uns die Sprache – ich kann es nicht anders sagen. Für eine ganze Weile war nur das zeternde Geschwätz der zwanzig Schritte von uns entfernten Feilschergruppe zu hören. Doch irgendwann bemerkten die Kleinen, daß in unserer Gruppe etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein mußte. Sie verstummten ebenfalls und musterten uns mit ihren großen, kindlichen Augen.
»Das ist stark!« seufzte Larix, der schließlich als erster seine Fassung wiedergefunden hatte.
Mädchen – nein, von nun an soll sie ihren richtigen Namen tragen: Yppolita starrte noch immer auf die Erde vor ihren Füßen. »Verachtet mich nicht zu sehr!« murmelte sie. »Ich habe gefehlt, aber ich bereue es und will meine Strafe auf mich nehmen.«
Viburn faßte ihr unter das Kinn und hob sanft ihren Kopf. »Was redest du da für einen Unsinn ... Yppolita? Wo hast du gefehlt? Was für eine Strafe?«
»Ja, wißt ihr denn nicht?«
»Nein, ich fürchte, wir wissen gar nichts, Yppoli... äh ... Eure Hoh...«
»... Yppolita genügt.«
»Also, Yppolita: Alles, was wir vom Fürsten von Albernia, unserem Auftraggeber, erfahren haben, war dies: Die Amazonen haben eine Königin, Yppolita mit Namen. Diese Königin, zu der sich Fürst Bennain aus bestimmten Gründen hingezogen fühlt
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