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Die Gabe der Amazonen

Die Gabe der Amazonen

Titel: Die Gabe der Amazonen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Kiesow
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Tunnel beschrieb einen langen Bogen nach rechts, knickte schließlich scharf nach links und endete in einem Raum mit quadratischer Grundfläche. In die Wand zu unserer Rechten war eine zweiflügelige Tür eingesetzt.
    Nipper traf Anstalten, uns den Weg zu versperren, während sein Gefährte langsam einen Türflügel aufzog. Blendendhelles Tageslicht fiel durch den Spalt. Viburn sprang an Nipper vorbei, ergriff den anderen Feilscher beim Kragen und drückte die Tür wieder zu. Dann wartete er ab, bis auch Junivera, die als letzte ging, zu uns gestoßen war, und zog die Tür vorsichtig auf. Blinzelnd und zwinkernd spähten wir in einen kleinen Talkessel, der von unserem Standort bis zur gegenüberliegenden Felswand vielleicht zweihundert Schritt maß. Viburn ergriff die beiden Feilscher bei den Armen, und wir traten ins Freie.
    Das Tal hatte eine merkwürdige Gestalt, man konnte seinen Boden in etwa mit einer Schuhsohle vergleichen. Dann standen wir an einer Seite des Absatzes. Zu unserer Linken erstreckte sich der Kessel in seiner Hauptausdehnung. Hier maß er von einem Ende bis zum anderen ungefähr sechshundert Schritt. Die Talsohle, eben wie ein Brett, war zum größten Teil mit Obstbäumen bewachsen, Baum für Baum kelchförmig gestutzt, geordnet in Reih und Glied wie die Pikeniere auf dem Exerzierfeld in Gareth. Zu meiner Überraschung trugen alle Bäume noch dichtes – nicht einmal herbstlich gefärbtes – Laub.
    »Das gibt's doch nicht – Kirschen! Oder ich will Larix heißen!«
    Elgors scharfe Augen hatten richtig gesehen. An einem Teil der Bäume – sie waren mit feinmaschigen Netzen behängt – leuchteten dicke, rote Kirschen, geradeso als hätte eben erst der Sommer und nicht etwa der grimmige Winter begonnen.
    Vor unseren Füßen begann ein mit dukatengroßen Steinen gepflasterter Weg, lief schnurgerade zur Mittelachse des Tales, wo er auf eine breite Straße stieß, die zwischen den Obstbäumen verschwand. Das Land vor der Obstpflanzung war von kurzem, blaugrünem Gras bedeckt, auf dem eine Unmenge dicker brauner Hühner herumstolzierte. Die Vögel in unserer Nähe waren stehengeblieben, um uns mit schief gehaltenem Kopf mißtrauisch zu beäugen.
    Weder auf der Straße noch zwischen den Bäumen oder auf der Wiese war ein Mensch – oder meinetwegen ein Feilscher – zu sehen. Auch ein Haus oder sonst ein Bauwerk konnten wir nirgends entdecken.
    Viburn, der immer noch die beiden Kleinen ergriffen hatte, setzte sich langsam in Bewegung. Wir folgten ihm zur Straße und dann weiter in Richtung auf die Pflanzung. Schließlich hatten wir die Kirschbäume erreicht und noch immer kein lebendes Wesen erblickt – abgesehen von den Hühnern natürlich.
    Mädchen lief zu einem Baum hinüber und kehrte mit einer Handvoll Kirschen zurück. Die beiden Kleinen hatten sie dabei scharf beobachtet. In ihren Blicken lag eine Empörung, die sie nur mühsam überwinden konnten. Mädchen spuckte einen Kirschkern auf die Straße, kaute und schluckte gedankenverloren. »Feilscherkirschen«, murmelte sie. Sie aß eine zweite, erbleichte und stürzte zu Boden. Dort blieb sie liegen, bäuchlings, so wie sie gefallen war, preßte ihr Gesicht in die braune, frisch aufgebrochene Erde unter dem Kirschbaum und weinte. Ihre Schultern zuckten, ihr ganzer Körper wurde von einem stummen, schrecklichen Schluchzen geschüttelt. Elgor kniete sich neben sie, um ihr eine Hand auf die Schulter zu legen, aber Mädchen schien die Berührung gar nicht zu bemerken. Sie drängte ihr Gesicht nur tiefer in die weiche Erde.
    Wir sahen uns ratlos an. Viburn schleuderte einen Feilscher zu Boden und stellte ihm den Fuß auf die Brust, den anderen, Nipper, stieß er mit dem Rücken gegen einen Kirschbaumstamm. Er riß den Säbel aus der Scheide und drückte die Spitze gegen den Trommelbauch des Kleinen. Mordlust funkelte in Viburns Augen. Ich erschrak.
    »Viburn, komm zu dir! Sieh dir die Burschen doch an! Die sind genauso verwirrt wie wir. Sie wissen auch nicht, was mit Mädchen geschehen ist, glaub es mir!«
    In der Tat hatten die Feilscher Mädchens Weinkrampf völlig überrascht beobachtet. Mag sein, sie hatten sich darüber geärgert, daß Mädchen ihre Kirschen stahl, aber mit dieser Wirkung hatten sie nicht gerechnet.
    Mädchen kroch auf dem Bauch zu einem Baum, zog sich am Stamm empor und blieb eine Weile reglos stehen, die Stirn gegen die Rinde gelehnt. Viburn sah zu ihr hinüber. Er hatte sich gefaßt, die Kleinen waren erst einmal außer

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