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Die Gabe der Amazonen

Die Gabe der Amazonen

Titel: Die Gabe der Amazonen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Kiesow
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über den Hof gekrochen war.
    Larix hatte mich geweckt, weil er ein Geräusch gehört hatte. Wir waren zum Fenster geeilt. Unser erster Blick hatte Yppolita gegolten, die aber reglos – und anscheinend unversehrt – am Schandpfahl stand. Der Mond hatte dicht über dem Horizont geschwebt, die Burggebäude hatten lange schwarze Schatten geworfen. Während wir noch in den Hof schauten, schien sich der Schatten der Scheune in Bewegung zu setzen. Eine dunkle Form schob sich unter leisen Schleifgeräuschen über das Pflaster, eine ungestalte, massige Kreatur von der Größe eines Pferdefuhrwerkes. Wir hatten einen klobigen Kopf gesehen, an einem langen Schlangenhals pendelnd, ruhelos witternde Nüstern, so groß wie Armreifen; aus den schwarzen Löchern waren dünne Rauchfahnen aufgestiegen. Auf dem Rücken hatte das Untier zwei Zacken getragen, hoch emporragend wie die Segel eines Fischerbootes.
    »Ein Drache«, hatte Larix geraunt. »Ich habe noch nie einen gesehen, aber das muß ein Drache sein!«
    Das Ungeheuer war in Yppolitas Richtung gekrochen. Bei Larix' Flüstern hatte es gestutzt und den Kopf gehoben. Wir waren vom Fenster zurückgezuckt.
    Auf dem Hof war ein gedämpftes Klatschen zu hören gewesen – wie das Schlagen einer Zeltbahn im Wind. Ein Schatten hatte den Mond verdunkelt, dann war es wieder hell geworden. Wir waren nach vorn gesprungen und hatten nach unten gestarrt – der Hof lag verlassen im Mondlicht.
    »Ein Drache!« hatte Larix aufgeregt geflüstert. »Wenn ich auch bald sterben muß, ich habe doch wenigstens einmal einen leibhaftigen Drachen gesehen!«
    »Ich kann es nicht fassen«, hatte ich erwidert. »Warum sollte ein fliegender Lindwurm hier über den Hof spazieren?«
    »Vielleicht wollte er sich Yppolita holen?«
    »Tatsächlich? Und du hast ihn durch dein Flüstern aufgescheucht – wie einen Eichkater?«
    Darauf hatte der Zwerg nichts zu erwidern gewußt. Ich dachte noch eine Weile über das Ereignis nach, bis ich schließlich entschied, daß unsere überreizten Nerven uns einen Streich gespielt hatten.
    »Vielleicht war es der Schatten einer Wolke«, hatte ich gesagt, »vielleicht ein verirrter Rauchschwaden aus dem Kamin. So etwas gibt es. Wenn es mehrere Personen zugleich wahrnehmen, nennt man es ›Gemeinsame Sinnestäuschung‹.« Wir hatten noch eine Weile miteinander gestritten, aber schließlich hatte der Zwerg, da ihm die Beweise fehlten, klein beigegeben. Am Morgen hatte ich das Erlebnis wie einen schlechten Traum fast schon wieder vergessen – und nun diese Entdeckung: ein ganz und gar wirkliches Stück Drachenscheiße!
    Uns blieb keine Zeit mehr, noch einmal über die Kreatur der Nacht zu sprechen, denn eben hatten zwei Kriegerinnen Yppolita losgebunden, und auf dem Flur vor dem Arrestraum polterten Fußtritte heran. Der Riegel quietschte, und die Zellentür wurde aufgerissen.
    »Heraus mit euch!«
    Die Amazone warf einen flüchtigen Blick auf Elgor. »Was ist mit ihm? Ist er ...?«
    Sie trat näher, legte ihm die Hand erst auf die Stirn, dann auf den Mund. »Er war Krieger, nicht wahr?«
    Larix schwieg. Auch ich hatte keine Lust, mit ihr über unseren toten Gefährten zu sprechen.
    »Nun – mag Rondra ihn in ihren Hallen aufnehmen! Ihr beide werdet ihn um seinen Tod beneiden, noch ehe dieser Tag vorüber ist.«
    »Wir sterben nicht mit Yppolita zusammen?« fragte ich.
    »Warum sollten wir euch diese Ehre widerfahren lassen? Immerhin ist Yppolita eine Amazone, und sie war unsere Königin. Habt ihr das vergessen?«
    »Nein, wir nicht«, knurrte Larix. »Aber ihr! Mein Volk würde seinen schlimmsten Feind nicht so sehr demütigen wie ihr eure Anführerin.«
    Zu meiner Überraschung antwortete die Amazone nicht. Mir schien sogar, daß eine leichte Röte ihre Wangen überzog.
    »Los jetzt!« befahl sie mit gesenkter Stimme. »Dreht euch um! Wir werden euch binden.«
    Eine zweite Amazone trat ein. Sie hielt eiserne Achten in den Händen. Es dauerte einen Augenblick, bis ich das Gesicht unter dem Helm erkannte: Dedlana! Meine spröde Geliebte aus dem Schwarzen Bären! Sie starrte mich aus weitaufgerissenen Augen an. Ich senkte den Blick, drehte mich um und streckte die Arme aus. Kühles Metall legte sich um meine Handgelenke. Die beiden führten uns hinaus auf den Korridor. Auf der Treppe stolperte ich und wäre gestürzt, wenn Dedlana mich nicht mit sicherem Griff aufgefangen hätte.
    »Sehr freundlich«, sagte ich so gelassen wie möglich. »Ich hätte mich leicht zu Tode

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