Die Gabe der Amazonen
Eigentlich sollten sie schon seit vielen Jahren ausgestorben sein. Mein Großvater hat mir von ihnen erzählt. Er nannte sie ›Feilscher‹.«
»Feilscher?«
»Ja, Elgor, das ist der Name, den er ihnen gab. Sie selber mögen sich anders nennen. Sie sprechen eine eigene Sprache, die niemand versteht.«
»Das haben wir gemerkt. Woher mag ihr seltsamer Name stammen?«
»Keine Ahnung. Großvater sagte, sie sollen sehr geschäftstüchtig gewesen sein. Er ist ihnen im Finsterkamm begegnet, wo sie angeblich mit Orks und anderen Menschenfressern einen schwunghaften Handel trieben.«
»Es waren zwei spaßige kleine Gesellen«, warf ich ein. »Schade, daß sie es so eilig hatten fortzukommen ...«
Viburn schüttelte den Kopf. »Merkwürdig. Ich kann mich nicht darauf besinnen, daß mein Großvater sie lustig gefunden hätte. Klein ... ja, aber spaßig? Ich hatte immer das Gefühl, daß er bei den Feilschern etwas erlebt hat, das er mir verschweigen wollte. Ich war schließlich noch ein Kind, und Kindern erzählt man nicht alles. Auf die besten Geschichten müssen sie verzichten.«
Während unserer Unterhaltung waren auch Mädchen und Junivera erwacht. Mädchen hatte unter ihrem schwarzen Umhang geschlafen. Jetzt war sie aufgestanden, um ihn auszuschütteln, und Junivera sah zum ersten Mal, daß Mädchen die erbeutete Uniform einer Amazone trug. Die Geweihte sprang auf.
»Wie ist das möglich?« rief sie. »Du trägst eine Gewandung, die dir nicht zusteht!«
Mädchen wandte sich um und sah Junivera fest in die Augen.
»Was geht dich das an?«
»Die Amazonen stehen unter dem Schutz meiner Göttin. Sie sind ihr wohlgefällig. Du verhöhnst Rondra, wenn du dich mit dieser Uniform schmückst, die zu tragen du kein Recht hast. Darum geht es mich etwas an.«
Mädchen warf den Kopf in den Nacken. » Deine Göttin? Rondra hat dich verlassen. Du hast es selbst gesagt. Erinnerst du dich nicht?«
»Ist das zu glauben?« rief Viburn dazwischen. »Wollt ihr wohl mit dem lächerlichen Geplänkel aufhören und«, er grinste verschmitzt, »euch gemeinsam mit mir darüber freuen, daß unser Freund überraschend schnell genesen ist?«
Mädchen entspannte sich und lächelte dem Streuner zu, aber Juniveras Miene blieb versteinert.
»Zieh die Sachen aus!«
»Das kann doch nicht dein Ernst sein, Junivera!« Viburns heitere Stimmung war nicht so leicht zu erschüttern. »Sie friert sich doch den ... äh ... die Nase ab! Ich finde auch, daß ihr die Tracht nicht steht – der Panzer ist viel zu weit, aber daran ist nun nichts mehr zu ändern –, zumal sie so klug war, ihre alten Kleider zurückzulassen.«
Elgor, der nicht darauf hoffte, daß Viburn mit seinen lockeren Sprüchen etwas ausrichten würde, ließ Junivera nicht aus den Augen und trat fürsorglich zwischen die Frauen.
»Herunter mit der Uniform, oder ich werde dir mit der Klinge die Ehrfurcht vor der göttlichen Rondra lehren!«
Mädchen stemmte die Hände in die Hüften. »Ich kämpfe nicht mit dir – du bist mir keine würdige Gegnerin.«
»Laß mich, Elgor!« sagte Junivera zu dem Krieger, der ihr die Hand auf die Schulter gelegt hatte. »Jetzt muß ich sie töten – du weißt es. Sie hat mich beleidigt. Ich muß Rondras Geboten folgen.«
»Gar nichts mußt du!« stellte Mädchen mit ernster Stimme fest. »Du bist keine Kriegerin vor der Göttin – und ihr zu nichts verpflichtet.«
»Mädchen, halt den Mund!« seufzte Viburn. »Du machst alles nur noch schlimmer!«
»Es mag sein, daß die Göttin im Moment ihre Gnade von mir genommen hat. Aber das ist allein deine Schuld, du Hure!« Junivera war erbleicht, um so dunkler glänzten ihre haßerfüllten Augen. »Du, du hast mich gedemütigt ... im Verlies bei dem Untier ... und gestern, bei der Hecke, als die Reiter kamen! Rondra blickt nicht gnädig auf eine Dienerin, die so tief beleidigt worden ist.«
Mädchen winkte ab. »Ach was! Leeres Gerede! Wir beide wissen, wann deine Göttin dich verlassen hat – falls, falls sie jemals auf deiner Seite war.«
Larix, der die letzte Wache gehalten hatte, war im Türrahmen aufgetaucht und hatte dort das Ende des Wortwechsels mitangehört. »Mit Reden ist dieser Streit wohl nicht aus der Welt zu bringen, Elgor!« sagte der Zwerg. »Vielleicht müssen sie gegeneinander kämpfen – aber nicht jetzt. Ich habe Hufgetrappel gehört. Offenbar Reiter aus Beilunk. Sie haben die Suche noch nicht aufgegeben. Wir hätten schon längst aufbrechen sollen, waren schon viel zu lange
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