Die Gabe der Magie
Herzschläge
später lief ich ihm nach. Die Fa ckeln in den Tunneln waren jetzt entzündet, und ich sah, wie Fischjunge
zu rennen anfing. Auch ich beschleunigte meinen Schritt und versuchte, ihn
einzuholen, während ich eine seltsame, schwer zu greifende Angst niederkämpfte,
die von dem Gefühl herrührte, nackt zu sein. Der Stein war kalt und rau, und
meine Füße schmerzten bei jedem Schritt, aber ich wurde nicht langsamer. Fischjunge
bremste vor jeder Biegung ein wenig ab, sodass es mir gelang, ihn in Sichtweite
zu halten. Ich war mir ganz sicher: Er wollte, dass ich ihm folgen konnte, denn
erst als er in den letzten, geraden Gang
eingebogen war, rann te er schneller, und seine langen Schritte machten
es mir unmöglich, ihm zu folgen.
Er ließ die Tür zu unserem Raum offen.
Stolpernd kam ich zum Stehen, und ich war so froh, nicht in diesem endlosen Labyrinth
von Tunneln verloren gegangen zu sein. Doch dann zögerte ich, und es widerstrebte
mir, einzutreten. Was auch immer sie getan hatten, um diesen Raum riesig wirken
zu lassen – würde das Gleiche noch einmal geschehen?
»Sie haben uns Lampen gebracht«, rief
Fischjunge aus dem Innern des Zimmers.
Ich beugte mich in den Raum. Fischjunge
hatte sein Licht entzündet, stand davor und blickte mir entgegen.
Offensichtlich fühlte er sich nackt ebenso wohl, als wäre er bekleidet. Meine
Lampe stand noch dunkel auf dem Schreibtisch
an der entgegengesetzten Wand. Ich beweg te mich darauf zu und versuchte,
mich in der Dunkelheit auf meiner Seite des Zimmers zu verstecken. Auf jedem
Schreibtisch befanden sich zwei riesige Bücherstapel, und auf unseren Betten, wie ich bemerkte, lagen Umhän ge: kleinere, hässlichere Ausgaben von denen, die die
Zaube rer selbst trugen. Diese hier waren in einem trüben, schlammigen
Ockerton in der Farbe von Kot. Fischjunge legte seinen Umhang an.
Ich drehte ihm den
Rücken zu und ließ meinen eige nen
über den Kopf gleiten, dankbar, mich wieder bedecken zu können. Dann begann ich
zu kratzen. Der Stoff war grob wie Sackleinen.
Ich setzte mich auf den Rand mei nes Bettes und starrte auf meine
blutigen Füße. Fischjunge saß an seinem kleinen, hölzernen Schreibtisch, mit
dem Gesicht zur Wand. Er schlug eines der dicken Bücher auf der ersten Seite
auf und begann zu lesen. Ich starrte auf den Titel: »Die Lieder der Ältesten«.
Dann bückte ich mich, um meine Fußsohlen
zu untersuchen. Das Blut war bereits klebrig und trocknete. Die Schnitte waren
nicht tief. Das Rennen über den Steinboden hatte sie nur aufgeschürft. Ich warf
Fischjunge noch einen letzten Blick zu, dann legte ich mich hin und starrte in
die Dunkelheit, die die gewölbte Felsendecke hoch über unseren Köpfen verbarg.
Natürlich konnte Fischjunge lesen, sonst wäre er wohl nicht hier. Aber wo hatte er es gelernt? Es gab keine Schule in den
Elendsquartie ren des South Ends von Limori. Und auch die Bauerndörfer
hatten keine Schulen. Die meisten Menschen hatten nie lesen gelernt. Alle
Jungen, mit denen ich in eine Klasse gegangen war, hatten Väter, die die
Schulgebühren bezahlen konnten. Sie besaßen Schiffe und Lagerhallen wie meiner,
hatten alte, vom König verliehene Rechte, Ge würze
oder Tee einzuführen, endlose Flachsfelder und - brechen weit oben im
Norden, wo man noch immer Sklaven kaufen und veräußern konnte, oder duftende Vanilleplantagen
im wilden Süden. War Fischjunge ein Prinz von der Orchideenküste? Warum sollte
er sich dann wie ein Bettler kleiden?
Ich warf mich auf dem Bett hin und her,
und der steife Umhang rieb auf meiner Haut. Vielleicht war mein Zimmergenosse
ein davongelaufener Sohn eines reichen Priesters der Eridianer, der ihm
verboten hatte, die Eingangsprüfungen abzulegen? Eridianer hatten nur wenig
Sinn für Magie. Ich atmete aus. Diese Erklärung machte mehr Sinn als alle
anderen. Vielleicht hatte sich Fischjunge im South End versteckt, damit sein Vater
ihn nicht davon abhalten konnte, hierherzukommen.
Er las immer weiter. Ich begann nachzudenken.
Was hatten die Zauberer als Nächstes mit uns vor? Natürlich würde ich nicht
derjenige sein, der die Prüfungen bestand, also welchem Schicksal sah ich entgegen?
Ich zitterte, und jeder Zentimeter meiner
Haut juckte unter der Berührung des rauen Stoffes. Ich hatte solche Angst.
Meine Gedanken wurden immer lauter, bis sie sich anfühlten, als würden sie im
Innern meines Schädels schreien.
»Alles wird gut«, murmelte ich und schloss
die Augen. Dann flüsterte ich mir all das zu,
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