Die Gabe der Magie
was meine Mutter zu mir gesagt
hatte, als ich noch klein war und einen Albtraum hatte. Ich erzählte ihr, wie
sehr ich mich fürchtete und wie seltsam es hier war. Ich berichtete ihr von
Fischjunge und dem Zauberer und was er mit uns gemacht hatte. Ich verschwieg
ihr auch nicht, was mit dem Hemd geschehen war. Und, so dumm es auch klingen
mag, ich fühlte mich besser, als ich die Worte in die leere Dunkelheit
hineinwisperte. Meine Gedanken beruhigten sich, dann gerieten sie
durcheinander, und ich muss eingeschlafen sein.
15
AM ANFANG WAR SADIMA DER KLEINEN STRASSE
MIT DEN WAGENFURCHEN GEFOLGT, DIE DIE BAUERN DER abgelegenen
Höfe benutzten, um am Markttag nach Ferne zu
gelangen. Die se führte auf eine breitere Straße, die sich Richtung
Westen wandte. Lange Zeit war Sadima an der Kreuzung stehen geblieben und hatte
zurückgeschaut. Noch nie in ihrem Leben war sie ganz auf sich gestellt so weit
von zu Hause und von ihrem Bruder entfernt gewesen. Sie war wachsam, als liefe
sie auf einem Boden, der zu dünn und brüchig war, um ihr Gewicht zu halten,
doch sie setzte ihren Weg fort.
Irgendwann mündete die Straße Richtung
Westen in eine breitere, eine richtige Straße mit Wagen und Kutschen, die drei-
oder viermal am Tag an ihr vorbeifuhren. Sechs Tage lang hielt sie sich auf
diesem Weg und gewöhnte sich an das Gewicht ihres Bündels, in dem sich alles befand, was sie besaß. An jeder Abzweigung
mach te sie Halt und entschied sich für die breiteste und am stärksten bereiste Straße, wenn sie keine
freundliche See le fand, die sie nach dem Weg fragen konnte.
Sie aß Beeren und Brot, das sie von zu
Hause mitgenommen hatte. Dann machte sie einen halben Tag lang Rast und
fertigte zwei Skizzen von Wildblumen an, die sie für einen Viertellaib Käse an eine erstaunte Bauersfrau verkaufte. Nachts
schlief sie zwischen den Bäumen am Rand der Straße und zog sich manchmal am
nächsten Morgen ein sauberes Kleid an. Sie besaß drei, wenn man das mit den
Flecken und den Löchern dazurechnete, das sie immer zum Malen trug. Wenn sie an
einem warmen Tag auf einen Bach stieß, wusch sie ihre Kleidung so gut wie möglich,
hängte ihre beiden nassen Kleider auf Büsche und streifte das zerschlissene
über, bis die anderen beiden getrocknet waren.
Nach sechs Tagen brauchte sie keinerlei
Hilfe mehr, um den Weg zu finden. Meistens waren ein Wagen oder eine Kutsche in
Sicht, und an Markttagen war die Straße voll mit Karren, auf denen sich
leuchtende, grüne Kürbisse türmten, fette Rüben, Bündel von Schafsfellen, Stoffe und alles, was sie sich sonst noch
vorstellen konn te. Also lief sie einfach immer weiter. Limori. Schon der
Name kam ihr wie ein verheißungsvolles Wunder vor. Es klang wie kein anderes
ihr bekanntes Wort. Alle Arten von erstaunlichen Dingen würden dort zu finden
sein, da war sie sich sicher. Es lag unmittelbar am Meer. Die Kerzenleuchter
ihrer Mutter hatten ihren Weg über den Ozean nach Limori gefunden, und sie
waren von einer Art großem Boot gebracht
worden, das sich Schiff nann te. Die Vorstellung eines Meeres, ja
überhaupt von einem Gewässer, das zu groß
war, als dass man es hätte überbli cken können, ließ sie erschaudern.
Während ihrer Reise veränderte sich die
Landschaft. Sie wurde flacher, die Erde dunkler. Die Höfe waren prächtig und
reich. Spargel und wilde Brombeeren säumten den Bach, und sie aß von beidem
beinahe täglich. Niedrige Lorbeerbäume wuchsen auf den Weiden, und aus
Gewohnheit schnitt sie Schösslinge und streifte die Blätter ab, um sie trocknen
zu lassen. Sie sammelte auch Felddill und Majoran und stach wilden Knoblauch,
wenn sie welchen entdeckte. Sie aß Sauerklee, den sie im Wasser des Bachs
gespült hatte, und Portulak, wenn sie auf welchen stieß. Überall, wo es
schattig war und etwas Wasser gab, wuchs Minze. Besonders an nebligen Morgen
duftete die Luft danach. Sie pflückte und trocknete so viel davon, wie sie konnte,
und knüpfte an den Abenden kleine Säcke aus Riedgras, um die Kräuter zu transportieren.
Am fünfzehnten Tag mischte sich etwas in
den alles überlagernden Duft der Minze. Sie konnte einen geheimnisvollen Geruch
von gesalzenem und geräuchertem Fisch ausmachen und glaubte, dass dieser vom
Meer stammen müsste. Eines Nachts, als sie von der Straße zwischen die Reihen
der Bäume schlüpfte, ihre Decke ausbreitete und schlief, bemerkte sie am
Horizont ein Glühen. Zwei Tage später erkannte sie die Farbe – es war der
Schein von Feuer. Waren es
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