Die Gabe der Magie
wurde gerade eben langsam genug, dass
ich sehen konnte, wohin er ging. Kaum dass wir in unserem Zimmer angekommen waren, setzte er sich im Schnei dersitz
mit dem Gesicht zur Wand auf sein Bett.
Ich ging zum Becken und trank kaltes
Wasser, um meinen leeren Magen zu beruhigen, dann ließ ich mich auf die
Bettkante sinken. Ich wollte nach draußen. Ich hasste es, den Himmel nicht
sehen zu können. Stattdessen starrte ich auf meine wunden Füße und setzte sie
auf die Liste der Dinge, die ich verabscheute. Ich hasste die gewundenen
Tunnel, ich hasste die Zauberer. Und meinen Vater. Über ihn nachzusinnen bewirkte,
dass meine Gedanken gänzlich aussetzten, und ich merkte, wie ich einige
Sekunden lang auf Gerrards Hinterkopf starrte. Ich bewegte mich ein
wenig, und das Geräusch meines Umhangs auf der Bettdecke schien laut. Als ich
mich räusperte, klang es wie ein Schreien.
Ich war das ständige Schweigen so leid. Vor
dem Unterricht sprach niemand, Gerrard sagte ohnehin kaum je etwas, und das
Gestein verhinderte, dass auch nur das geringste Geräusch von draußen zu uns
hereindrang. Ich vermisste es, Stimmen zu hören. Ich vermisste den Klang des
Windes in den Kiefern zu Hause.
Ein Brennen in meinen Augen ließ mich
aufstehen. Es gab keinen Ausweg, kein Essen und niemanden, den es auch nur im
Geringsten kümmerte, was mit irgendeinem von uns geschah. Ich wollte nur nach
Hause.
Nein.
Nicht nach Hause, nur anderswohin.
Ich zog den Stuhl unter dem Schreibtisch
hervor und setzte mich, dann stand ich wieder auf und griff nach dem
Geschichtsbuch. Als ich mich auf mein Bett legte, spürte ich etwas Klebriges, Nasses in meiner Achselhöh le, und so
richtete ich mich wieder auf, um nachzusehen. Das grobe Material des Umhangs hatte
die Haut so viele Male schon wund gerieben, dass aus den aufgeschabten Stellen
eine klare, gelbliche Flüssigkeit rann. Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen
die Wand und zog den elendigen Umhang so, dass der Stoff nicht mehr auf den
rauesten Stellen auflag. Dann begann ich zu lesen, und zwar von Anfang an, und
ich zwang mich, mich auf die Worte zu konzentrieren.
Das erste Kapitel in
dem Buch erzählte nach, was jedes Schulkind bereits wusste. Das erste Zeitalter der Magielag schon lange zurück, so lange, dass zu
der Zeit, als dieAkademie gegründet
worden war, niemand mehr etwas darüber
wusste, und nur wenige Menschen glaubten an die Geschichten, die den Kindern
als Märchen erzählt wurden.
In dem zweiten Kapitel wurde etwas
berichtet, von dem ich noch nie gehört hatte. Das erste Zeitalter der Magie, so
wurde behauptet, wurde von einem Zusammenschluss von machtverliebten Königen
und einem General beendet, der aus dem gemeinen Volk aufgestiegen und von den
Königen dazu gebracht worden war, zu glauben, dass die Zauberer böse seien.
Tausende von Zauberern waren auf primitive, hässliche Weise getötet worden –
mit Äxten und durch Feuer, und sie wurden gevierteilt und ertränkt. Ihre Bücher
wurden verbrannt, und selbst ihre große Stadt aus Stein wurde ausgelöscht, was
man in dem Buch den Königskrieg nannte.
Ich unterbrach das Lesen und sah auf. Eine
Stadt aus Stein? Wo? Hier im Berg? Ich hätte Tunnel und Höhlen nicht gerade
eine Stadt genannt, aber vielleicht war es das, was gemeint war. Der letzte
Abschnitt beschrieb, dass die Könige auch untereinander gekämpft hatten und
dass die ganze Menschheit generationenlang mit Krieg geschlagen gewesen war.
Ich blätterte um und erwartete irgendeine Erklärung dafür, warum niemand die
Geschichten des Krieges zusammen mit den Geschichten über Magie und Zauberer
weitererzählt hatte, aber es gab keine.
Das dritte Kapitel des Buches bestand aus
einer Liste der Königreiche, die diesen Krieg nicht überdauert hatten. Sie
umfasste zwanzig Seiten, aber die Hälfte davon waren Karten, die zeigten, wo
die historischen Königreiche gelegen hatten. Darüber hinaus gab es wie in jedem
Geschichtsbuch eine Liste mit der königlichen Erbfolge dieser Nationen. Ich
hoffte nur, dass wir sie nicht würden auswendig lernen müssen. Darin war ich
nicht besonders gut, und diese Liste war lang.
Ich versuchte, mit dem vierten Kapitel
anzufangen, aber meine Augen waren zu schwer. Ich lauschte auf meinen
knurrenden Magen und ließ zu, dass sich meine Lider langsam senkten.
Hatte Levin dies gelesen? Er hatte mir
beim Auswendiglernen geholfen, damals in der dritten Klasse, als wir beide erst
sieben Jahre alt waren. Er hatte mir auch geholfen, eine Kröte in
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