Die Gabe der Magie
SADIMA NOCH VOR
DER MORGENDÄMMERUNG, WIE SCHON IHR GANZES LEBEN lang.
Aber da war kein Hahn zu hören, kein Blöken von Schafen, kein schläfriger Ruf
einer Eule auf dem Weg nach Hause, und sie brauchte einen Augenblick, bis sie
wieder wusste, wo sie war. Als sie sich zurechtgefunden hatte, setzte sie sich
auf und glättete ihr Kleid. Dann erhob sie sich, faltete die Decken zusammen
und fand einen Platz auf dem untersten Boden im Schrank, wo sie sie zusammen
mit ihrem Bündel verstauen konnte.
Als Franklin und Somiss aus ihren Zimmern
kamen, hatte sie sich bereits das Gesicht gewaschen, Minztee und gekochte Eier
zubereitet und dünne Scheiben Kartoffeln mit Öl und Knoblauch gebraten. Ohne
ein Wort zu sagen, stellte sie die Teller auf den abgenutzten, aber immerhin
frisch abgewischten Tisch im Wohnzimmer. Somiss warf ihr einen Blick zu,
starrte dann auf das dampfende Essen vor sich, setzte sich und begann zu
frühstücken.
Franklin hatte sich halb umgewandt, sodass
Somiss nicht sehen konnte, wie er ihr zuzwinkerte. Sadima schenkte ihm ein
winziges Lächeln. Als sie wieder in der Küche war, hob sie die Bratpfanne,
stellte sie auf die kühle Seite des Ofens und legte ein neues Holzscheit ins
Feuer, um den Zinnkessel mit heißem Wasser am Dampfen zu halten. Sie lugte über
die Schulter zu den Männern und fing Somiss’ Blick auf. Er beobachtete sie.
Erschrocken errötete sie und drehte sich
wieder zu ihrer Arbeit zurück. Während Franklin eine zweite Portion Kartoffeln
verspeiste, stand Somiss bereits auf. Ohne ein Wort zu verlieren, ließ er
seinen Teller auf dem Tisch stehen, lief den Flur hinunter und verschwand
wieder in seinem Zimmer.
»Er verbringt dort wohl den Großteil
seiner Zeit, was?«, fragte Sadima leise.
Franklin unterbrach
sein Kauen. »Beinahe jeden Au genblick.
Ich machte mir Sorgen um ihn.« Er machte eine Geste in Richtung des Essens und
der sauberen Küche. »Du bist so schlau und freundlich, wie ich gehofft hatte.
Er wird sich an dich und die heißen Mahlzeiten gewöhnen. Sprich nur eine Weile
nicht allzu viel.«
Sadima nickte.
»Er kann manchmal wegen kleiner Dinge
zornig werden«, sagte Franklin. »Wenn das geschieht, halt dich einfach fern von
ihm.«
Wieder nickte Sadima.
»Ich bin so froh, dass du gekommen bist«,
fuhr Franklin leise fort. »So froh. Und ich hoffe, dass du bleibst.«
»Das will ich«, entgegnete Sadima. »Warum
trägst du keinen schwarzen …« Sie brach ab und deutete mit den Händen einen
langen Umhang an.
Franklin schüttelte
den Kopf. »Somiss hat entschie den,
dass es falsch wäre, wie die Leute auszusehen, die er zu ersetzen hofft. Die
Quacksalber. Die Betrüger.«
Sadima nickte. Es machte Sinn. »Hast du
ihn überzeugen können, die Stille Sprache zu erforschen?«
Franklin legte einen Finger an die Lippen,
und seine Antwort war ein Flüstern. »Nein. Und das werde ich auch nie schaffen.
Er ist auf alte Geschichten gestoßen, die besagen, dass diese Sprache den Niedergang
der Zauberer eingeläutet hat.«
Sadima seufzte. »Aber du und ich, wir
könnten …«
»Eines Tages vielleicht«, sagte er und
lächelte sie an, als hätte sie etwas gesagt, das ihn fröhlicher stimmte, als es
sonst irgendetwas auf der Welt vermochte. Ehe er sich an seine eigene Arbeit
machte, Somiss’ Aufzeichnungen zu ordnen, gab Franklin ihr einige Kupfermünzen,
damit sie die Vorräte aufstocken konnte. Und so brach sie auf zum Marktplatz,
doch sie fühlte sich sehr eingeschüchtert und klein, und sie war zu scheu, um
irgendjemanden nach dem Weg zu fragen. Aber schon am frühen Vormittag kannte
sie die einzelnen Bereiche des Marktes. Aus der Ferne sah sie Maude; sie sagte
jemandem die Zukunft voraus, und ihre Augen waren fest auf das Gesicht ihres
Gegenübers geheftet. Sadima ging näher hin. Maude entdeckte sie, winkte,
lächelte und wandte sich dann wieder ihrer Arbeit zu. Sadima winkte zurück und
war erstaunt, wie glücklich sie war.
An diesem Abend war Franklin entzückt vom
Hähnchen und den Rosmarinklößen, die sie zubereitet hatte. Er tat so, als wäre
er kurz vorm Verhungern gewesen, als er die ersten Bissen nahm, was sie zum
Lachen brachte. Dann dankte er ihr noch einmal dafür, dass sie da war.
Schließlich gesellte sich auch Somiss zu
ihnen ins Wohnzimmer, aber er war still und gedankenverloren. Er brach sein
Schweigen nur, um Sadima um mehr Salz zu bitten, sprach allerdings so leise,
dass sie sich vorbeugen musste, um ihn hören zu können. Als er fertig
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