Die Gabe der Magie
mit drei langen Schritten und öffnete den
Schrank. »Sieh nur.«
Sadima sah, wie er sich umdrehte und ihr
Bögen aus Papier entgegenhielt, die so weiß wie Lilien waren. Er sah aufgeregt
aus wie ein Kind, das die Pastete zum Winterfest trug, und es brachte Sadima
zum Lächeln.
Maude hatte unrecht. Franklin war der
Hübschere der beiden. Sein gutes Herz leuchtete in seinen dunklen Augen. Sie
streckte die Hand aus und nahm vorsichtig ein einzelnes Blatt Papier zwischen
die Finger. Es war erstaunlich glatt und dünn. Wie konnte man so etwas
herstellen? Das Papier, das die Händler in Ferne benutzten, um Kräuter zu
verpacken und Laternenglas einzuschlagen, war schwerer, und es war braun. Sie
starrte auf die winzigen, tanzenden Zeichen, die diese feine Oberfläche
bedeckten.
»Es ist seltsam, nicht wahr?«, fragte
Franklin. »Sich vorzustellen, dass Somiss’ Worte hier gefangen sind.«
Worte! Sadima starrte auf das Netz von Linien, dann sah sie
Franklin in die Augen.
Er warf einen Blick den Flur hinunter,
dann beugte er sich zu ihr und flüsterte.
»Weißt du, was Schrift ist?«
Sie nickte und fühlte sich dumm, dass sie
nicht erraten hatte, was diese kleinen Zeichen auf dem Papier waren. Natürlich
hatte sie vom Schreiben gehört, denn in den Geschichten, die ihr Micah erzählt
hatte, gab es immer irgendwelche Prinzen, die Briefe schrieben, oder einen
König, der einen Erlass schrieb, der dem Volk vorgelesen werden sollte.
Franklin beugte sich noch näher. »Somiss
hat es mir beigebracht, als wir Jungen waren. Er wollte, dass ich die gleichen
Bücher wie er lesen kann. Ich habe es versucht.« Er richtete sich wieder auf
und zeigte auf das Papier. »Dies ist seine Schrift. Sie ist beinahe vollkommen.«
Sadimas und Franklins Blicke kreuzten
sich, als er zu ihr aufsah.
Sie hatte noch nie jemanden kennen
gelernt, der lesen oder schreiben konnte. Das wollte sie ihm erzählen, doch als
sie die Lippen öffnete, kam stattdessen heraus: »Ich hatte solche Angst, dass
du dich nicht mehr an mich erinnerst.«
Er sah ihr in die Augen. »Ich habe all die
Zeit über gehofft, dass du kommen würdest.« Er machte eine unbeholfene Geste in
Richtung der Tür. »Du siehst nicht aus wie früher, Sadima. Du bist erwachsen geworden.«
Sie lächelte und hoffte, dass sie nicht
errötete. »Ich bin nur froh, dass es dir nichts ausmacht. Ich war mir nicht
sicher, ob …« Ein Klopfen an der Tür ließ sie beide zusammenfahren. Franklin
wirbelte herum und rannte zum Schrank, wo er die Papiere eilig verstaute. Dann
drehte er sich wieder um, als Somiss’ Stimme ertönte: »Franklin?«
»Ich werde ihn hereinbitten«, rief
Franklin zurück. Dann nahm er Sadimas Hand und zog sie auf die Beine. »Es ist
der Mann von den Ferrins«, flüsterte er und führte sie in Richtung der Küche. »Somiss bezahlt ihn für Neu ig keiten vom König und seiner eigenen königlichen
Fami lie. Lass dich nicht blicken und mach kein Geräusch.« Er drückte
ihre Hand und hastete davon, um die Tür zu öffnen.
Sadima lehnte sich gegen eine Seite des
Türbogens, und ihr Herz flatterte. Somiss war königlicher Herkunft? Kein
Wunder, dass Maude von ihm beeindruckt war. Sadima hatte am Lagerfeuer von
Königshäusern gehört, aber in den Geschichten waren diese Menschen beinahe
immer böse. Sie hörte Franklin etwas sagen, dann ertönte das Geräusch eines
zurückgeschobenen Stuhls. Sie sah sich um und versuchte, sich mit vertrauten Tätigkeiten
zu beruhigen, mit dem Herd, dem Spülbecken. Die kleine Küche war schmutzig. Entschlossen
krempelte Sadima die Ärmel hoch. Über dem Spülbecken hingen Putzlumpen an Haken
an der Wand. Es würde keinen Lärm machen, wenn sie den Tisch abwischte.
18
ES LIESS SICH UNMOGLICH SAGEN, WANN DIE
SONNE AUFGING. – ODER WANN SIE WIEDER SANK.
Wenn wir vom Hämmern gegen die Tür
aufwachten, waren die Eimer für unsere Notdurft immer sauber. Wir wuschen uns
zitternd und benutzten den Kübel, dann bemühten wir uns, mit einem Zauberer
Schritt zu halten, den wir nie zuvor gesehen hatten und der keinerlei Interesse
an uns zu haben schien. Einen von ihnen fragte ich einmal, wann man uns etwas
zu essen geben würde, aber der kleine, kahlköpfige Mann, der uns führte, schien
mich nicht zu hören. Ich erkundigte mich, wie lange wir schon hier seien. Er würdigte
mich keines Blickes.
Ich war so hungrig. Es war schwer, ohne
Kopfkissen zu schlafen, und ich hasste den Futtersack, den ich tragen musste.
Die Stellen, an denen er rieb,
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