Die Gabe der Magie
betonte Rinka. »Lass es mich wissen, wenn du mehr brauchst, ehe
die nächsten sieben Tage um sind. Ich will nicht, dass du hungern musst.«
SADIMA WAR GANZ AUFGEDREHT, ALS SIE GING.
OBWOHL SIE SO MÜDE WAR, TANZTE SIE BEINAHE ÜBER DEN BÜR GERSTEIG. Sie fand einen Mann, der gerade den Boden seines Ladens wisch te, und
überredete ihn, ihr die Tür aufzumachen. Bei ihm kaufte sie ein ganzes Huhn,
das bereits gerupft und fertig zum Kochen
war, drei große, süße Törtchen und ein hal bes Stück weißer Butter.
Zu Hause schürte sie das Feuer, nachdem
sie sich hineingeschlichen hatte, und füllte den größten Topf mit Wasser. Als
es kochte, löschte sie das Feuer bis auf die Glut.
AM NÄCHSTEN MORGEN WACHTE SIE AUF, UND DAS
HUHN WAR FERTIG. ES WAR ZART, UND DAS FLEISCH LÖSTE sich leicht von den Knochen. Auch die
Törtchen waren gut durchgebacken, dufteten und warteten nur noch auf die
Butter. Franklin kam aus seinem Zimmer. Sadima beobachtete ihn und lachte laut
auf, als sie sah, wie sich seine Augen vor Überraschung weiteten. »Rinka hat mir
mehr bezahlt, als ich dachte.«
Franklin kam näher und schnupperte am
Dampf, der aus dem Kessel aufstieg. Dann hob er Sadima in die Luft und schwang
sie im Halbkreis. Er küsste sie – eine flüchtige Berührung seiner Lippen auf
ihren. »Ich war noch nie so hungrig«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Somiss hat
alle Kupferstücke, die ich mitgebracht habe, genommen und sie für Papier und
Tinte ausgegeben.«
Sadima hörte, wie Somiss’ Tür geöffnet
wurde, und Franklin setzte sie wieder ab. Dann trat er einen Schritt von ihr
zurück, und sie drehten sich beide um. Sadima beobachtete Franklin. Dieser
strich sich die Haare aus der Stirn, dann wischte er sich mit dem Handrücken
über die Lippen, und sie begriff, wie sehr er befürchtete, dass Somiss
herausfinden könnte, was sie füreinander empfanden.
»Sadima hat uns was Ordentliches zu essen
gekauft!«, rief Franklin, als Somiss ins Wohnzimmer trat. Ein seltsamer
Ausdruck wanderte über Somiss’ Gesicht, und Sadima bekam einen Schrecken, als
sie bemerkte, wie dünn er geworden war. Wie lange war es her, dass sie ihn
zuletzt gesehen hatte? Fünf Tage? Sechs? Da war er auch schon dünn gewesen.
Doch nun waren seine Wangen kantig, und die
Haut spannte über den Knochen. Nur sei ne Augen glänzten.
»Nichts zu essen scheint meine Gedanken zu
klären«, verkündete er. »Die Arbeit geht mir mühelos von der Hand.« Er lächelte
die beiden an. »Vielleicht werde ich morgen etwas essen«, fügte er hinzu, und
er klang wie ein selbstzufriedenes Kind. »Oder am Tag danach.« Er schöpfte
Wasser in einen Becher und lächelte Franklin und Sadima noch einmal an, ehe er
sich wieder in sein Zimmer zurückzog.
32
JEDES MAL, WENN ICH MEINE AUGEN SCHLOSS,
TRÄUMTE ICH VOM ESSEN. DANN ERWACHTE ICH VERWIRRT UND SCHWACH – und sah Gerrard, hohlwangig und bleich, aufrecht sitzend.
Meist las er in seinem Geschichtsbuch oder übte, was Franklin uns beibrachte.
Ich hatte keine Ahnung, wie es ihm gelang,
sich zu konzentrieren. Für mich wurde es immer schwerer zu sprechen, schwerer
zu denken, und ich konnte nicht mehr als
zwei Äpfel am Tag verspeisen. Etwas in mir war sau er geworden, als hätte
ich Essig getrunken. Mein Magen verkrampfte sich so schmerzhaft, dass ich es
kaum aushalten konnte. Immerhin verhungerte ich nicht. Noch nicht. Aber es war
leicht, sich auszumalen, wie es war, wenn man zu schwach wurde, um noch laufen
zu können.
Jeden Tag, falls es sich denn um Tage
handelte, saß ich in Franklins Unterrichtsstunden, meine Eingeweide wanden
sich, und meine Spucke schmeckte wie Asche. Dann musste ich warten, bis sich Gerrard entschloss, zum Speisesaal zu gehen, was bedeutete, ich musste wach
bleiben, damit er nicht ohne mich gehen konnte. Warum nur konnte ich mir die
Abzweigungen nicht selbst merken?
Eines Abends – wenn es denn ein Abend war
–, nachdem wir bei Franklin im Unterricht gewesen waren, sah ich Gerrard beim
Lesen zu, und es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, ehe er endlich aufstand und
auf den Flur trat. Auch ich erhob mich und folgte ihm wie immer. Und wie immer
benahm er sich, als wäre ich gar nicht da, zwanzig Meter hinter ihm und
verzweifelt bemüht, mit seinen langen Schritten mitzuhalten.
Drei Jungen waren bereits da, als wir
eintraten. Tally stand mit dem Gesicht zum Stein und ließ die Schultern hängen.
Joseph und der Junge, dessen Namen ich noch immer nicht kannte, saßen an den
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