Die Gabe der Magie
einlaufen konnte, oder
das Lächeln meiner Mutter, wenn ihre entsetzlichen Kopfschmerzen nachließen.
Ich hatte mich nicht verborgen, nur um die Ergebnisse der Magie zu Gesicht zu
bekommen. Ich wollte die Magie selbst sehen, und ich war mir so sicher gewesen,
dass das geschehen würde …
Langsam drehte ich mich zu dem Edelstein
um, und eine vage Idee nahm in meinen Gedanken Gestalt an. Ich rief mir den Obsthain vor mein geistiges Auge, versuch te,
mich so wie an diesem Tag zu fühlen, und veränderte das Bild dann zu einem
Teller mit dampfenden Pfannkuchen. Ich roch den Duft von Ahornsirup und süßer
Butter und hörte das Geräusch des Eierteigs
in der heißen Bratpfan ne und wenn die Luft aus dem Küchlein wich, sobald
es auf dem Teller lag, was immer wie ein Seufzen klang. Ich trat einen Schritt
näher und berührte den Stein in dem festen Glauben, dass ich Magie
erleben würde. Es ging nicht um die Pfannkuchen, sondern um Magie .
Wie üblich blitzte ein Licht auf, ich
hörte die sonderbaren Geräusche, und dann lagen die Pfannkuchen dort. Dampfend.
Gebuttert. Vollkommen. Ich warf einen Blick zum Eingang, aber ich war allein.
Mein Blick verschwand unter den Tränen; ich schlang das Essen hinunter wie ein
Hund aus dem South End, würgte am Ende und hätte mich beinahe übergeben. Kaum
war ich fertig, zerrte ich alles – das Tablett, jede Krume, die Gabel – auf den
Boden und wischte den Tisch mit dem Saum meines Umhangs ab. Dann griff ich
meine zwei Apfel, lief den Gang hinunter, setzte mich und lehnte mich an die
Wand, um auf Gerrard zu warten.
Zuerst rebellierte mein Magen, aber dann
beruhigte er sich wieder, und ich schwankte zwischen Wachen und einer Art
Schlaf. Als ich das leichte Scharren von bloßen Füßen auf dem Stein hörte,
öffnete ich die Augen. Es war Gerrard. Und er war allein. Er kam näher, und ich
sah, dass er wie ein Hund den Kopf hob. Konnte er das Essen immer noch riechen?
»War Franklin hier?«, fragte er mich. Ich zuckte mit den Schultern und sank
wieder gegen die Wand. »Vielleicht. Ich bin eingeschlafen.«
Er nickte. Dann lief er an mir vorbei. Ich
sah, wie er vor dem Edelstein stehen blieb, doch als er die Hände dagegenpresste,
geschah nichts. Daraufhin drehte er sich um, kam wieder aus dem Saal und ging
davon, wie er es immer tat, nämlich schnell genug, um vor mir zu bleiben.
»Danke, dass du gekommen bist, um mich zu
holen«, flüsterte ich, als wir nahe genug bei unserem Zimmer angekommen waren,
aber ich bekam keine Antwort. Ich war mir nicht
ganz sicher, ob er mich gehört hatte, brach te es jedoch nicht über mich,
es noch einmal zu wiederholen. Es gab keine Veranlassung zu glauben, dass er
mir mit dem Rückweg helfen wollte. Wahrscheinlich hatte er den Stein einfach
noch einmal ausprobieren wollen. Ich legte die Äpfel auf meinen Tisch und
hoffte, dass er sich einen nehmen würde. Aber er tat es nicht.
Da ich mich zum ersten Mal seit langer
Zeit besser fühlte, schlug ich mein Geschichtsbuch auf. Ich blätterte an all
den Königreichen und den Karten vorbei und kam zum Abschnitt über den Gründer.
Sechs Seiten in komplizierter Sprache, auf denen ungefähr dies stand: Der
Gründer war der Einzige, der der Magie irgendeinen Wert zumaß, der Einzige, der
mutig genug war, seinen Tod zu riskieren, um die Magie zu erforschen und sie
wieder in die erstaunliche Kraft zu verwandeln, mit der sich Gutes bewirken
ließ, wie es einst der Fall gewesen war. Er war der Einzige, der geglaubt
hatte, dass das möglich wäre, und er hatte dieses Ziel auch in schwierigen Zeiten
verfolgt, die jeden anderen zur Aufgabe gezwungen hätten. Der Gründer war ein
herausragender Geist, ehrenwert und bewunderungswürdig. Seine Familie hatte
stets versucht, ihn aufzuhalten: Sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt,
um zu erkennen, was er leistete, und zu selbstsüchtig, um ihn in seiner Arbeit
zu schätzen.
Als ich das Buch zuklappte, schoss mir der
Gedanke durch den Kopf, dass es Tausende von Menschen gab, die meinen Vater
ebenso bewunderten, wie der Verfasser des Buches den Gründer vergötterte. Wenige
mochten ihn. Und niemand hatte je mich oder meine Mutter nach ihrer Meinung
gefragt, Celia oder Gabardino und sonst ein Mitglied der Bedienstetenfamilien,
die in schlichten Hütten lebten, Sommer wie Winter und Tag und Nacht
arbeiteten, nur um etwas zu essen zu haben. Ich fragte mich, was die Angehörigen
des Gründers und Freunde über ihn sagen würden, wenn sie noch lebten.
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ALS
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